Dem „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben ist es in seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Reporterpreises unbeabsichtigt gelungen, eine zentrale Ursache des Glaubwürdigkeitsproblems vieler Medien bündig darzulegen:
Bei uns im Spiegel, im Atrium steht dieser schöne Spruch von Rudolf Augstein „Sagen, was ist“ und jeden Morgen, wenn ich da in diesen Wochen an diesem Spruch vorbeigekommen bin, habe ich ihn quasi ergänzt „… und bedenken, was daraus folgt.“ Ich glaube, heutzutage kann man nicht einfach sagen, was ist oder schreiben, was ist, sondern man muss sich auch als Journalist darüber klar werden, was man mit dem, was man schreibt, bewirkt.
Rudolf Augstein kann sich nicht mehr wehren. Sein journalistisches Credo hieß gerade nicht „Sagen, was ist – vorausgesetzt, es dient der richtigen Sache.“ Als liberaler Geist – kurzzeitig saß er ja für die FDP im Bundestag – hätte er Schnibben vermutlich gefragt, wieso der sich anmaße, stets besser als andere zu wissen, was richtig sei und wie die Kausalzusammenhänge in hochkomplexen Gesellschaften aussehen würden.
Die volkspädagogisch ambitionierten Bevormundungs- und Erziehungsjournalisten sind es gerade, die vielen deutschen Medien ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert haben. Die Distanzlosigkeit von Journalisten gegenüber Gleichgesinnten aus der Politik spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele Menschen nehmen die sogenannte vierte Gewalt nicht mehr als Kontrollorgan wahr, sondern sehen im politisch-medialen Komplex eine diffuse Einheit, deren Problemlösungskompetenz nicht mehr ausreicht, frühere Versprechungen einzulösen – Wohlstand für alle, gute Bildung, sichere Renten, europäische Einigung etc.
„Wenn die Welt aus den Fugen gerät“, sagt sich verständlicherweise mancher Bürger, „kann es mit der Weisheit der Gestalter aus Politik und Medien ja nicht so weit her sein.“ Deshalb schadet die Anmaßung von Wissen dem Journalismus genauso wie jede augenzwinkernde Kumpanei mit Politikern, die ebenfalls das vermeintlich Richtige wollen.
Reporter, gerade auch solche vom „Spiegel“, täten sich selbst einen Gefallen, wenn sie am Augsteinschen Diktum „Sagen was ist“ nicht – pardon – herumschnibben würden. Der Beifall, den Schnibben für sein Bekenntnis zum Nudge-Journalismus bekam, zeugt aber von einer Gleichförmigkeit des Denkens in seinem Kollegenkreis, die nicht optimistisch stimmt.
„Sagen, was ist“: Das journalistische Motto Rudolf Augsteins hängt in Form stählerner Lettern an der Wand des SPIEGEL-Foyers. Im eigenen Regal steht ein Buch-Titel mit den gleichen drei Wörtern. Untertitel: Zur Aktualität von Hannah Arendt (hrsg. U. Kubes-Hofmann, 1994). Stutzen. Dann die Frage: Wessen drei Worte waren zuerst?
Die politische Denkerin Hannah Arendt schreibt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ von 1963:
„Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind das zu tun, was Herodot als erster bewusst getan hat, nämlich (Originalworte in griechischen Buchstaben) zu sagen, was ist (…) Wer es unternimmt zu sagen, was ist, kann nicht umhin eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung , die menschlich sinnvoll ist. (…)
Andererseits heißt es (2004, S.347) in dem von Jochen Bölsche herausgegeben DTV-Taschenbuch: R. Augstein, Schreiben, was ist: „Einen seiner frühen Kommentare, adressiert an die Bonner Regierenden, überschrieb der Mann, der sich Jens Daniel (Pseudonym für R. Augstein) nannte, mit der knappen Aufforderung: „Sagen, was ist“.“ Meine Suche nach diesem Kommentar blieb erfolglos, habe aber auch nur bis wenige Jahre seit Gründung der Bundesrepublik nach besagtem Artikel gesucht. Dann: Durch Internetrecherche fand sich ein gleichnamiger SPIEGEL-Essay in Heft 47/1989. Wer hat noch zuverlässige Tipps zum Lösen des Rätsels?