Was Oskar Lafontaine über Politikergehälter sagte

Debatten über Politiker- vs. Managergehälter? Alles schon mal dagewesen. Nicht nur, dass Sigmar Gabriel vor acht Wochen fast wortgleich dasselbe sagte wie jetzt Peer Steinbrück in dem von Medienleuten unnötig skandalisierten FAS-Interview. Schon im Juni 1992 veröffentlichte der Spiegel (Heft 24) ein Streitgespräch zwischen dem damaligen SPD-Politiker Oskar Lafontaine und dem Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch. Weiterlesen „Was Oskar Lafontaine über Politikergehälter sagte“

Demokratie-Abgabe für den Rudeljournalismus?

Im aktuellen Stern 1/2013 beklagt Hans-Ulrich Jörges den um sich greifenden “Rudel- journalismus” und erinnert noch einmal daran, dass vor einem Jahr Christian Wulff “von einer Medien-Stampede niedergetrampelt wurde, wie sie mit dieser Wucht und Gleichförmigkeit noch nicht zu erleben war.” Jetzt läuft eine ähnlich massive Kampagne gegen Peer Steinbrück. Der Mann kann sagen, was er will, die Medienmeute findet immer einen Dreh, die Empörungs- maschinerie anzuwerfen und einzelne seiner Aussagen zu skandalisieren. Und wie im Fall Wulff sind auch bei der diesjährigen Winter-Stampede die GEZ-Medien vorn dabei. Weiterlesen „Demokratie-Abgabe für den Rudeljournalismus?“

Japanische Krankheit und demografischer Niedergang

Wenn ich auf dieses Chart von Dylan Grice schaue – er ist Analyst bei der Société  Générale in London – halte ich es fast für ausgeschlossen, dass die lang anhaltende stagnative Phase der japanischen Wirtschaft,  von den Leitartiklern gern „japanische Krankheit“ genannt,  mit Demografie nichts zu tun hat. Nur: In Deutschland redet kaum jemand darüber. Es erforscht auch kaum jemand die möglichen Zusammenhänge zwischen Demografie und wirtschaftlichem Wachstum. Das liegt an der Tabuisierung des Demografie-Themas durch politisch korrekte Aufpasser.

Dylan Grice stellt in dem Chart die arbeitsfähige Bevölkerung einiger früh industrialisierter Länder zwischen 1950 und 2050 dar, indiziert auf 1950. Die Basis bilden Veröffentlichungen der UNO. Beim Blick auf das Chart versteht man sofort, warum der Economist die USA mal als „funktionierendes Ponzi-System“ bezeichnet hat – eigentlich ja ein Widerspruch in sich. Aber in den  USA wächst eben tatsächlich – bisher jedenfalls – durch gelingende Integration ehrgeiziger Einwanderer immer wieder etwas nach, so dass der Kettenbrief nicht reißt.

Nach dem schmerzhaften Schuldenabbau wird möglicherweise der große melting pot wieder recht gute Wirtschaftsperspektiven haben. Frankreich und das Vereinigte Königreich können sich nach den vorliegenden Projektionen auf eine relativ stabile Arbeitsbevölkerung bis zur Mitte des Jahrhunderts einstellen.

Anders sieht es für Japan und Deutschland aus.  Beide haben erhebliche demografische Probleme und nahmen – wahrscheinlich auch deshalb – an der großen Immobilienblase der letzten Jahre schon gar nicht mehr teil. Für Japan zeichnet das Chart ein besonders düsteres Bild. Die Arbeitsbevölkerung – aus ihrem jüngeren Teil rekrutieren sich natürlich auch die Haushaltsgründer mit hoher Konsumnachfrage – überschritt in Japan schon in den 1990er Jahren ihren Zenit. Also just in dem Jahrzehnt, in dem die „japanische Krankheit“ ausbrach.

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Hans-Ulrich Wehler: „Attacke gegen die Meinungsfreiheit“

Was Hans-Ulrich Wehler, der „bedeutendste Sozialhistoriker der Gegenwart“ (Die Zeit),  in Ausgabe 41/2010 der Hamburger Wochenzeitung über Sarrazins Buch und die Folgen schreibt, ist eine schallende Ohrfeige für Merkel, Wulff, Gabriel, Künast und ihre publizistischen fellow travellers:

„Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat.“

Wehler ist nicht nur bedeutender Sozialhistoriker. Er ist auch nicht nur, wie Jürgen Kaube in der FAZ schreibt, „der privaten Gesinnung – nicht der Mitgliedschaft nach – Sozialdemokrat, sondern zusammen mit Jürgen Habermas derjenige Intellektuelle, der das sozialliberale Geschichts- und Gesellschaftsbild in den vergangenen fünfzig Jahren wohl am stärksten wissenschaftlich artikuliert hat.“ Wehler macht sich Sarrazins Aussagen zu Genetik und Erbintelligenz nicht zu eigen und hätte es angemessener gefunden, wenn Sarrazin in diesen Teilen im Konjunktiv formuliert hätte:

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Der große Lümmel greint

Sarrazin ist binnen zweier Wochen zum „Volkshelden“ (Spiegel) geworden. Warum? Weil er  zur Wahrheit, wie er sie sieht, kein taktisches Verhältnis hat. Dafür lieben ihn die Leute. Damit unterscheidet er sich von all den Schlaumeiern des politisch-publizistischen Komplexes, die sich klug dünken und in der Tat oft auch hochintelligent sind, deren Finten aber „das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich Heine)  satt hat.

Ein vielleicht typischer Repräsentant dieser neunmalklugen politisch-publizistischen Funktionselite ist Michael Spreng, einst Chefredakteur der Bild am Sonntag, Wahlkampfleiter von Stoiber, Berater von Rüttgers, Redaktionsleiter von Maischbergers Talk-Show. Zwei Kostproben seiner vermeintlichen Cleverness lieferte Spreng im Fall Sarrazin.

Erstens gehört er zu denen, die besonders laut bestreiten, dass die Causa Sarrazin mit Meinungsfreiheit etwas zu tun habe. Denn,  sagt Spreng,  „kaum einer durfte in den letzten Jahren den Mund so weit aufreißen wie Thilo Sarrazin.“ Doch die Leute sind nicht so dumm wie Spreng zu glauben scheint. Nach seiner Logik hätte auch die Verfolgung Kurt Westergaards oder Salman Rushdies durch islamistische Fanatiker mit Meinungsfreiheit rein gar nichts zu tun.  Denn die beiden genossen ja sogar noch mehr Publizität als Sarrazin.

Zweitens fand er im 450-Seiten-Wälzer Thilo Sarrazins zielsicher die Stelle, mit der Sigmar Gabriel öffentlichkeitswirksam gegen Thilo Sarrazin punkten könne. Spreng schreibt:

“ Wer sich selbst seiner nicht sicher ist, dies auch noch öffentlich demonstriert, der überzeugt keine Wähler.

Umso unverständlicher ist, dass die SPD in der öffentlichen Diskussion nicht die 50.000-Euro-Trumpfkarte spielt. Sarrazin will Akademikerpaaren, die unter 30 ein Kind bekommen, 50.000 Euro Prämie zahlen. Damit steht er in fundamentalem Gegensatz zur Aufstiegsphilisophie der SPD: Aufstieg durch Bildung. Sarrazin dagegen will aus seiner kruden Sicht von vererbbarer Intelligenz nur die Aufstiegsgewinner belohnen. Verkäuferinnen, AOK-Angestellte, Busfahrer, Facharbeiter sollen leer ausgehen. Geld gibt’s nur  für Akademiker.“

Das veröffentlichte Spreng am Mittwoch letzter Woche, einen Tag später spielte Gabriel prompt in der Illner-Talkshow die vermeintliche Trumpfkarte. Thilo Sarrazin liegt hier auch nach meiner Ansicht völlig daneben. Sein Vorschlag ist blödsinnig. Er leitet sich daraus ab, dass Sarrazin die angeborene Intelligenz überschätzt. Nur geht es hier nicht um die Hauptbotschaft des 450-Seiten starken Sarrazin-Wälzers, sondern um eine eher unbedeutende Randnotiz.

Eine ernsthafte, intellektuell redliche Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazin, das zeigen diese Beispiele, ist vom Berliner politisch-publizistischen Komplex nicht beabsichtigt.  Einer,  der „Niedergang“ sagt anstelle des politisch korrekten Neusprechs vom „demografischen Wandel“,  einer, der statt geschönter Statistiken die echten Zahlen präsentiert, einer, der statt in Legislaturperioden in Generationen denkt, so einer soll als Schmuddelkind ausgegrenzt und in die Ecke gestellt werden.

Aber das Volk, der große Lümmel, fängt an zu greinen. Und das ist gut so.

Meinungsfreiheit

Für Bundesbank und Bundespräsidenten ist die Causa Sarrazin beendet. Im Gegenzug dankt die Bundesbank jählings dem Störenfried für seine Leistungen. Siegmar Gabriel betreibt aber weiter den SPD-Ausschluss und raunt in der gestrigen Illner-Talkshow andauernd dunkel über „Menschenbild“ und „Eugenik“, ohne auch nur ein einziges Mal präzise zu sagen, woran er erkennen könne, dass sein langjähriger Parteifreund plötzlich zum Rassisten mutiert sei. Wie sehr Gabriel seine Fähnchen nach dem Wind hängt, ist daran zu erkennen, dass er  Sarrazin nach Sichtung neuer Umfragewerte in Sachen Integration und Migration nun Recht gibt.

Berthold Kohler kommentiert in der FAZ zu Recht:

„Die Botschaft für Sarrazin, aber auch andere potentielle Abweichler vom politischen Mainstream, die Sarrazins der Zukunft, ist klar: Wer solche „überhaupt nicht hilfreichen“ Bücher schreibt, muss sich auf politische und gesellschaftliche Ächtung gefasst machen. Letzteres hat in Sarrazins Fall, sehr zur Enttäuschung und Überraschung seiner Scharfrichter, nicht mehr ganz funktioniert. Aber auch Sarrazin braucht Polizeischutz. In Potsdam wollten Künstler, gewöhnlich große Freunde der Kunst- und Meinungsfreiheit, nicht mehr ihre Bühne betreten, wenn Sarrazin auf ihr seine Thesen verteidigen dürfe. Die Freiheit der Andersdenkenden war einmal. Auch Voltaire scheint in Potsdam und Berlin nicht mehr häufig gelesen zu werden.

Das ist das Metathema, das den Erregungspegel des Volkes im Fall Sarrazin hoch hält: Was darf man in dieser Republik sagen und schreiben, ohne die mitunter bis zur Existenzgefährdung reichende „Menschenverachtung“ zu erfahren, die Sarrazins Kritiker nur bei ihm erkennen können? Und wer bestimmt die Grenzen des Meinungskorridors? Beides war jahrzehntelang geklärt: Die Linke in Politik und Publizistik zog die roten Linien, von der Ausländerpolitik bis zur Vergangenheitsbewältigung. Hinter dem autoritären Gebaren der Antiautoritären zeigt sich ein tiefes Misstrauen dem Urteilsvermögen des Volkes gegenüber.“

Kohler hat Recht. Viele Antiautoritäre von gestern sind Autoritäre von heute geworden. Wer ihre Denk- und Sprechverbote nicht beachtet, wird ohne einen Hauch von Empathie gnadenlos niedergemacht,  mit unfairen Mitteln.  Sie spüren allerdings, dass ihre Kräfte langsam nachlassen, ihre kulturelle Hegemonie schwindet, ihre Schweigespirale nicht mehr so gut wie früher funktioniert. Das macht sie noch aggressiver. 

Welchen Grund  gibt es eigentlich,  autoritären Kleingeistern immer noch ehrenvolle Benennungen wie „links“ oder „linksliberal“ zu gewähren?

Meinungsfreiheit stirbt zentimeterweise

Laut Süddeutsche Zeitung vom Donnerstag (2. 9.2010) beklagt Erhard Eppler, dass keiner „in den Gremien“ das Buch von Thilo Sarrazin zur Gänze kenne (gemeint sind die SPD-Gremien). „Und deshalb scheint mir diese Entscheidung zumindest voreilig zu sein“ (gemeint ist die Entscheidung zur Einleitung des Parteiausschlussverfahrens). 

Egon Bahr mag laut SZ auch noch kein Urteil fällen: „Das Buch hat mehr als 450 Seiten. Ich bin jetzt ungefähr auf Seite 38. Ich habe bisher nichts gelesen, an dem ich mich stoßen würde.“

Während also die großen alten Männer der SPD, die Weggefährten Willy Brandts, erstmal genau hinschauen wollen, bevor sie sich ein Urteil über Sarrazins Buch erlauben, verpasst die Parteispitze der SPD in Person des früheren Popbeauftragten Sigmar Gabriel dem Buchautoren unverzüglich das Attribut „menschenverachtend“ und gibt so den Unbequemen ganz nebenbei auch zum  Abschuss bei der Bundesbank frei, zur Vernichtung der beruflichen Existenz. Gabriel ist sich einig mit Guido Westerwelle, der am 29. August  zur Causa Sarrazin in staatsmännischer Pose erklärt hatte: 

„Wortmeldungen, die Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten, haben in der politischen Diskussion nichts zu suchen.“

Laut Presseberichten gehört Sarrazin seit 35 Jahren der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Aber keiner  in der Parteiführung kommt auf die Idee, Sarrazin gegen Westerwelles absurden Antisemititismus-Vorwurf zu verteidigen. Das muss am Ende der Journalist Josef Joffe übernehmen:

„Wieso ist es »Antisemitismus« (Westerwelle), wenn einer behauptet, Juden teilten ein »bestimmtes Gen«? »Ein« Gen ist zwar Unsinn, aber es gibt genug Studien, wonach sich Juden in diversen Diaspora-Gruppen genetisch sehr wohl von Nichtjuden in der jeweiligen Region unterscheiden. Kein Wunder auch, wenn eine Gruppe die Endogamie selber wählt oder sie erleiden muss.“  

Wahrscheinlich gerät demnächst unter Rassismus-Verdacht, wer sagt, dass Eskimos und Schwarze sich genetisch unterscheiden. Auch Frank Schirrmacher nutzt in intellektuell unredlicher Weise Sarrazins Interview-Irrtum mit dem „einen Gen“ aus, um ihn unter bösen Verdacht zu stellen.

„Die Frage, ob Herr Sarrazin als Mensch Rassist ist oder nicht, die können wir uns alle am Ende noch mal vorlegen, nach dieser Debatte. Aber vorher muss man sehen, was sagt dieser Mann, warum findet es solche Resonanz, was ist daran richtig, was ist daran nicht richtig? Nehmen Sie das Beispiel mit dem sogenannten Juden-Gen. Das stimmt einfach nicht. Übrigens gibt es auch kein Intelligenz-Gen. Und dieser Biologismus eines Autodidakten ist wirklich wahnsinnig gefährlich.“

Nein, es gibt kein Intelligenz-Gen. Aber selbstverständlich eine genetische Dimension der Intelligenz. Schirrmacher, selbst Autodidakt auf fast allen Gebieten,  schwurbelt hier bösartig über den „Biologismus eines Autodidakten“ als hätte er sein eigenes „Minimum“-Buch nicht gelesen.

Einer besonders originellen Argumentation bedient sich Schirrmacher, um Sarrazin des „Vulgärdarwinismus“ zu überführen, was immer das sein mag. Sarrazin, sagt Schirrmacher, meine eben etwas ganz anderes als er schreibe:

„So ist etwa seine These, die muslimischen Migranten hätten den Deutschen keinen ökonomischen Nutzen gebracht, nur vordergründig ökonomisch. In der Logik seines Buchs handelt es sich bei dem Nützlichkeitsargument um einen zentralen Pfeiler der Darwinschen Züchtungstheorie, denn Selektion, so Darwin, folgt den Gesetzen der Nützlichkeit.“

Tja, nehmt euch zukünftig in Acht, ihr Volks- und Betriebswirte, wenn ihr Kosten und Nutzen abwägt! Vielleicht seid ihr nur gut getarnte Anhänger der Menschenzucht.

Noch toller als Schirrmacher treibt es der Journalist Wolfgang Michal bei Carta. In einem (erbärmlich schwachen) satirischen Beitrag bezichtigt er Sarrazin unter anderem der Homophobie. Als ein Kommentator ihn darauf aufmerksam macht, dass Thilo Sarrazin noch niemals etwas gegen Homosexuelle gesagt habe, antwortet Michal  „noch nicht“.  Am besten, die Gesinnungspolizei nähme Elemente wie Sarrazin in Vorbeugehaft, nicht wahr, Herr Michal?

Die genannten Westerwelle, Schirrmacher und Michal sind nur drei Beispiele dafür, wie nahezu die gesamte politische und publizistische Klasse dem unliebsamen und unverblümt, subjektiv ehrlich und zweifellos oft polemisch formulierenden Debattenteilnehmer Thilo Sarrazin das Wort im Mund herumdreht. An Sarrazin soll ein Exempel statuiert werden.  Wer im Unterschied zu Sarrazin nicht finanziell abgesichert ist, sondern für seine Familie die Brötchen verdienen muss, der soll  sich zukünftig gut überlegen, ob seine Thesen zur political correctness von Claudia Roth und Renate Künast,  Angela Merkel und dem unsäglich eitlen Großinquisitor Michel Friedman passen.

 „Freedom dies by inches“, sagt der Angelsachse, die Freiheit stirbt zentimeterweise.  Das war keine gute Woche für die  Meinungsfreiheit in Deutschland. Das war keine gute Woche für die SPD und ihren Schnellrichter Gabriel. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden – da hatte die rote Rosa schon ganz Recht.

Ich habe Thilo Sarrazins Buch nicht gelesen, nur ein paar Seiten Vorabdruck im Spiegel. Ich habe aus dem bisher Gehörten und Gelesenen den Eindruck, dass Sarrazin das Psychologenkonstrukt  „Intelligenz“ und die Möglichkeiten seiner Messung  überschätzt und die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die individuelle Chance, ein gegebenes Intelligenzpotenzial überhaupt zu nutzen, unterschätzt.  Und ich bin überzeugt, dass Sarrazin Probleme anspricht, die von  denjenigen verkleistert werden, die noch kürzlich Sprachkurse für ausländische Kinder als „Zwangsgermanisierung“ empört zurückgewiesen haben.

Sarrazin, schreibt Cora Stephan,

„ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden…  Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wählerschaft eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, daß sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amts wegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert.“

So ist es. Ich frage mich, welcher Teufel die Sozialdemokratie und darüber hinaus die politisch-publizistische  Klasse geritten hat,  sich nahezu gleichgeschaltet auf eine solche Hexenjagd zu begeben.  Auch für private wie öffentlich-rechtliche Medien wird die über weite Strecken brutale Mundtotmachung eines unbequemen und womöglich in manchen Punkten irrenden Kritikers Langzeitfolgen haben, die noch gar nicht abzusehen sind.  Wie schon beim Rücktritt Köhlers zeigt sich, dass die veröffentlichte und die öffentliche Meinung weit auseinanderklaffen. Wer glaubt, das würde ohne Folgen bleiben, ist ein Narr. „Der Fall Sarrazin“, schreibt Cora Stephan,  „ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.“

Nachtrag:

Hier noch eine Anmerkung von Cora Stephan bei welt.de:

„Die Bundeskanzlerin gerierte sich als Oberzensorin, obwohl sie das Buch des Autors gar nicht gelesen hatte, empfahl hernach dem Vorstand der Bundesbank öffentlich, sich von Thilo Sarrazin zu trennen, und lobte zum Schluss dessen „unabhängige Entscheidung“. Sollte das ein Scherz sein? Und was ist von einem Bundespräsidenten zu halten, der sich eilfertig als Erfüllungsgehilfe annonciert? Langsam ahnt man, was Altbundespräsident Köhler dazu bewogen haben könnte, den Bettel hinzuschmeißen. Soviel Arroganz gegenüber den Regeln der Demokratie hat man hierzulande selten erlebt. Und jetzt möchte unsere verlogene Elite, nachdem der Provokateur entfernt ist, endlich über das „Megathema der nächsten Jahre“ diskutieren: über Integration.“

 

„Die SPD hat eine große Chance verpasst“

Das sagt der Soziologe Heinz Bude in einem lesenswerten Interview in der aktuellen Zeit (steht anscheinend bisher nicht online und trägt die Überschrift „Wie klug ist die FDP?“).  Vielen im linken Lager, sagt Bude, sei noch gar nicht klar geworden, dass die Linke nach Jahrzehnten die Deutungshoheit, die kulturelle Hegemonie, verloren habe.

„Die Leute akzeptieren die Wahrheitszumutung der Krise. Sie wissen, dass wir keine rettende Kollektivinstanz mehr haben, die uns vor den Problemen schützt, sondern, dass die Dinge ohne Eigenaktivität nicht zu richten sind. Das bedeutet nicht den Rückzug auf die Eigentümergesellschaft, sondern bringt die Einsicht zum Ausdruck, dass es eine Verbindung zwischen der Eigenverantwortung und derLösung der  Gesamtheitsprobleme gibt.“

Eigenverantwortung? Das ist nach Ansicht von Scheinlinken wie Christoph Butterwegge & Co. der beste Kandidat für das Unwort des Jahres. Viele, zu viele Sozialdemokraten sind in den letzten fünf Jahren solchen Gesinnungsethikern gefolgt, die – vielleicht weil sie aus dem Schul- und Hochschulbereich nie herausgekommen sind – die Realitäten nur noch selektiv wahrnehmen. Im wirklichen Leben wächst in den Bürotürmen dieses Landes seit langem die Zahl der Leute, die aus jeder Versicherung – ob sozial oder privat – „mindestens so viel rausholen“ wollen, wie sie eingezahlt haben. Heerscharen von Ratgebern und Juristen stehen ihnen dabei zur Seite. Man braucht keine Kenntnisse der Spieltheorie, um zu erkennen, dass solche Versicherungen – allgemein gesprochen: solche sozialen Systeme – kollabieren werden, wenn der Prozess nicht gestoppt wird.

„Mitnahmeeffekte bis weit in die Mittelschicht hinein“, hatte Gerhard Schröder deshalb vor Jahren angeprangert, wenn ich es recht erinnere. Die sozialdemokratischen Verantwortungsethiker hatten – wenn auch erst nach mehreren rot-grünen Jahren – den Mut gefasst, das  Ruder ein Stück weit herumzureißen.  Ihr Leitbild wurde – sie sprachen vom Fördern und Fordern – der zur Eigenverantwortung befähigte aufgeklärte Bürger.

Doch ein Großteil der SPD fühlte sich auch im jüngsten Wahlkampf wohler bei den Gesinnungsethikern und ihren einfachen Wahrheiten.  Der Verlust der kulturellen Hegemonie für das (schein-)linke Lager ist die Quittung dafür.

Realitätsverweigerer ohne strukturelle Mehrheit!

Die SPD hat noch schlechter abgeschnitten als ich befürchtet hatte. Wer die fröhlichen Gesichter von Böhning und Drohsel sah, die gleich nach 18 Uhr gestern vor den Kameras erschienen und „Konsequenzen“ forderten,  ahnt, wer auf den Pianisten geschossen hat. Will sagen: Natürlich hat die SPD auch deshalb so katastrophal abgeschnitten, weil die Franziska Drohsels in den letzten Monaten eher gegen als für Steinmeier und Steinbrück gekämpft haben.

Frank Lübberdings Rücktrittsforderung an Steinmeier und Müntefering ist interessant, ebenso wie die  anschließende erregte Diskussion im weissgarnix-Blog.  Lübberding und seine Mitstreiter haben überhaupt noch nicht begriffen, dass sie selbst mit ihrer 70er-Jahre-Weltsicht die Hauptverlierer dieser Wahl sind. Der Hauptgewinner ist nämlich Guido Westerwelles FDP – aus Sicht der Drohsels und Lübberdings der „neoliberale“ Gott-sei-bei-uns. Die Wählermehrheit teilt die 70er-Jahr-Sicht nicht.

Die Mehrheit derer, die diese Sicht nicht teilen, ist im übrigen viel größer als der gestrige Stimmenanteil von Schwarz-Gelb. Wenn die Drohsel-Lübberdings es nämlich schaffen sollten, kompetente Sozialdemokraten wie Steinbrück in einer Nacht der langen Messer zu schlachten, würde die SPD sofort die Stimmen der vielen Daniel Daffkes verlieren, die sie gestern noch bekommen hat. Das sind geschätzte fünf Millionen. Es gibt in Deutschland keine strukturelle Mehrheit der Realitätsverweigerer.

Steinmeier und die anderen Agenda-Politiker der SPD stehen – bei allen Fehlern, die sie gewiss gemacht haben – für eine nachhaltigere Politik. Aber nachhaltige Politik ist unbequemer als die Schuldenmacherei auf Kosten der Zukunft. Viele wollen lieber Freibier für alle. Oder Reichtum für alle.

Lübberdings Rücktrittsforderung zeugt noch aus einem anderen Grund von mangelnder politischer Urteilskraft. Wer mit Aussicht auf Erfolg eine rot-rot-grüne Mehrheit schmieden wollte, bräuchte selbstverständlich einen eher rechten Sozialdemokraten wie Steinmeier als Manager des Annäherungsprozesses zwischen rot und rot.

Schwarz-gelb oder schwarz-rot

 In diesem Blog schrieb ich vor rund drei Wochen nach den Landtagswahlen in Thüringen, im Saarland und in Sachsen:

„Die Chance, eine schwarz-gelbe Mehrheit im Bund zu verhindern, ist deutlich gewachsen, und es ist nicht auszuschließen, dass Frank-Walter Steinmeier doch noch Kanzler einer Ampel-Koalition wird.“

Das wurde damals von vielen politischen Kommentatoren als absurd bezeichnet. Heute wissen wir, dass der erste Teil des Satzes richtig war (siehe den Aufmacher des heutigen Abendblattes), der zweite Teil jedoch nicht. Westerwelle schließt heute eine Ampel kategorisch aus und würde wie Ypsilanti enden, wenn er nach der Wahl umfiele.

abendblatt
Hamburger Abendblatt von heute

Das grüne Urgestein Ralf Fücks hat einen treffenden Kommentar über das „Ampel-Gehampel“ geschrieben. 

„Hätte eine interessante Kombination sein können – sozial, liberal, ökologisch. Klingt fast wie das grüne Grundsatzprogramm.“ Leider, sagt Fücks, hätten aber alle Beteiligten alles getan, diese Option zu verhindern. Westerwelle schwöre heilige Eide gegen die Ampel, SPD und Grüne seien Schizos, wenn sie einerseits die FDP als neoliberalen Gott-sei-bei-uns darstellten und andererseits mit ihr eine Regierung bilden wollten.