Bedingt preiswürdig: der Kommentar von Anja Reschke

Anja Reschke, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR, wurde von der Jury der Fachzeitschrift Medium Magazin zur „Journalistin des Jahres“ gewählt. Die Ehrung erhält sie für ihren Tagesthemen-Kommentar vom 5. August 2015. „Kein anderer journalistischer Beitrag habe in diesem Jahr so viel Wirkung erzeugt wie dieser Kommentar, befand die Jury laut tagesschau.de. Meine uneingeschränkte Zustimmung fand dieser Kommentar damals nicht, und spätere Entwicklungen bestätigten den zwiespältigen Eindruck.

Der Rundfunkstaatsvertrag definiert die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: „Die Angebote sollen dazu beitragen, die Achtung vor Leben, Freiheit und körperlicher Unversehrtheit, vor Glauben und Meinungen anderer zu stärken.“ Pointierte Kommentare, die das Geschehen einordnen, interpretieren und bewerten, sind dazu besonders geeignet.

Im Tenor des Kommentars wurde Anja Reschke dieser Aufgabe auch gerecht. Sie geißelte mit berechtigter Empörung zahlreiche Brandanschläge und fremdenfeindliche Übergriffe, die jeder vernünftige Mensch verurteilt. Sie mahnte mit Nachdruck die Achtung vor dem Leben, der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit der Asylbewerber an. Sie rief zur Zivilcourage im Alltag auf.

Zu kritisieren ist aber eine Passage, die zur Schwächung statt zur Stärkung der Meinungsfreiheit beitrug. Anja Reschke fragte rhetorisch, was wohl passieren würde, wenn sie dafür plädieren würde, Wirtschaftsflüchtlinge genauso aufzunehmen wie Kriegsflüchtlinge. Und wählte dann in ihrer Antwort folgende Formulierungen:

„Ich bekäme eine Flut von Hasskommentaren: Scheiß-Kanaken. Wie viele sollen wir denn noch aufnehmen? Sollen abhauen! Soll man anzünden! All sowas halt. Wie üblich.“

Wer die Frage nach einer Obergrenze für (Wirtschafts-)Flüchtlinge stellte („Wie viele sollen wir denn noch aufnehmen?“) wurde also von Anja Reschke in einen Topf geworfen mit einem fremdenfeindlichen Pöbel („Scheiß-Kanaken“), der vor Mordaufrufen („soll man anzünden“) nicht zurückschreckt. Legitime, kritische Fragen wurden auf eine Stufe gestellt mit strafrechtlich relevanten Tatbeständen. Die Funktion dieser Passage bestand in der Einschüchterung derjenigen, denen angesichts einer wachsenden Zahl von Asylbewerbern berechtigte Fragen an die Politik auf der Zunge lagen. Anja Reschke zeigte ihnen die Instrumente: braune Ecke, gesellschaftliche Ächtung, berufliche Nachteile.

Wie stark wirkte die mediale Einschüchterung, für die Anja Reschkes Kommentar nur ein besonders prominentes Beispiel ist? Repräsentative Allensbacher Umfragedaten, Mitte Oktober erhoben, belegen einen enorm wuchtigen Effekt. Renate Köcher, die Leiterin des Instituts, schrieb dazu am 21. Oktober 2015 in der FAZ:

„In jüngster Zeit wird oft davon gesprochen, dass die Stimmung in der Bevölkerung dabei ist zu kippen. Dies trifft nur teilweise zu. Vielmehr zeigen die Daten, dass zunächst viele nicht wagten, sich außerhalb des Kreises vertrauter Gesprächspartner mit ihren Bedenken zu exponieren. Auch jetzt haben noch 43 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung den Eindruck, dass man in Deutschland seine Meinung zu der Flüchtlingssituation nicht frei äußern darf und sehr vorsichtig sein muss, was man sagt.“

Und weiter:

„Die große Mehrheit jener, die der anhaltende Flüchtlingsstrom besorgt stimmt, ist weder ausländerfeindlich noch dem rechten Rand zuzuordnen. Viele fürchten jedoch, dass sie in diesen Verdacht geraten, wenn sie öffentlich ihre Besorgnis äußern.“

Wenn 43 Prozent der Bevölkerung meinen, sich zum derzeit wichtigsten gesellschaftlichen Thema nicht frei äußern zu können, ist das besonders für jene Medien desaströs, die über eine „Demokratieabgabe“ (Jörg Schönenborn) finanziert werden und zur Stärkung der Meinungsfreiheit verpflichtet sind. Meinungsfreiheit ist nach Rosa Luxemburg bekanntlich nicht die Freiheit der Willigen, sondern die Freiheit der Andersdenkenden. Führende Journalisten müssten eigentlich diese Freiheit genauso wie das Grundrecht auf Asyl verteidigen – schließlich kommt mancher Asylbewerber wegen dieser Freiheit.

Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten (2)

„In Paris haben Terroristen der´Lügenpresse´das Maul gestopft“, schrieb FAZ-Herausgeber Berthold Kohler am Tag nach den Morden im ersten Satz des Leitartikel auf der Titelseite seiner Zeitung. Mit dem Wort „Lügenpresse“ spielte er auf die Dresdner Pegida-Demonstranten an. Die hatten das Wort bekanntlich skandiert. An späterer Stelle seines Artikels erklärte Berthold Kohler dann, wie sein Eingangssatz zu verstehen sei:

Weiterlesen „Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten (2)“

Ein paar merkwürdige Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten

Das ging fix: Wenige Stunden nach den Morden an Journalisten und Polizisten in Paris, klingt es bei manchen Journalisten, als wären die Opfer ein bisschen selbst schuld. Nach dem Motto: Warum musste die Satirezeitschrift Charlie Hebdo die sensiblen Moslems auch provozieren?

„Schon die Gründung des Magazins verdankt sich einem Skandal, bei dem die Provokation mitten ins Herz einer Gesellschaft ging …“, schreibt Claudia Tieschky auf sueddeutsche,de. „Geschmacklos und böse“ sei das Magazin immer wieder gewesen, teilt sie mit. Und:

„Besonders große Aufmerksamkeit brachten zuletzt Provokationen, die islamischen Bürgern Toleranz abverlangten …“

Als wäre es nicht ein Wesensmerkmal säkularisierter demokratischer Rechtsstaaten, allen Bürgern  Toleranz gegenüber Andersdenkenden abzuverlangen und ihnen, wenn sie sich denn beleidigt fühlten, den Rechtsweg offen zu halten.

Weiterlesen „Ein paar merkwürdige Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten“

Kommentar überflüssig

Ein bemerkenswerter Beitrag ist das, den Jakob Augstein da am 24. Dezember veröffentlicht hat. Die erste Passage zeigt, wie Augstein glaubt, einen Lügner überführen zu können. Die zweite Passage zeigt, wie er mit Lügnern verfahren will.

„Die FAZ lässt Sarrazin den Satz schreiben: ´Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten.´ Das stimmt einfach nicht. Es ist eine Lüge. Und zwar eine offensichtliche, die den Leser fassungslos macht. Es ist nicht nur so, dass keineswegs keiner Sarrazins Thesen bestritten hat – sondern es ist vielmehr so, dass die Experten geradezu kohortenweise über Sarrazins Kurzschlüsse hergefallen sind. Es sind nämlich nicht die Daten falsch, die er nutzt. Sondern die Schlüsse, die er daraus zieht.

Er bedient sich der Argumentationstechniken, die man von Rechtsradikalen kennt oder von Scientologen. Er lügt einfach. Und wenn er widerlegt wird, leugnet er auch das. Die Lüge ist das Wesen der Demagogie. Wir sind an die Lüge nicht gut gewöhnt. Es ist nicht einfach, in der Öffentlichkeit mit der Lüge umzugehen. Der Lügner hat es leicht. Er behauptet. Der einzige Weg, mit einem gewohnheitsmäßigen Lügner umzugehen, ist ihm das Wort zu entziehen.“

Nachtrag, 27. 12. 2010:

Jakob Augstein hat seinen Artikel gestern abend verändert. Die ursprüngliche Version ist hier noch im Google-Cache zu finden. Eine ausführliche, lesenswerte Auseinandersetzung mit Augsteins Artikel gibt es hier in Zettels Raum. Zettel argumentiert auf einem höheren Niveau als Augstein. In einem Punkt unterscheide ich mich aber von Zettels Position: Ich weigere mich, das, was Augstein gemacht hat, „links“ zu nennen.

Grüner Totalitarismus

Kürzlich hatte ich mich über den in Essen lehrenden Sozialpsychologen Harald Welzer erschrocken. Welzer hatte in einem Interview mit der „Zeit“ Holocaustleugner und Klimaskeptiker in einen Topf geworfen.

Im Klartext:  Er will eine offene Diskussion über Ursachen und Folgen der Erderwärmung so verbieten wie es  in Deutschland – aus guten Gründen – durch das Strafgesetzbuch verboten ist, den millionenfachen, industriell betriebenen Mord an den Juden zu leugnen. Das heißt, verbieten kann ein deutscher Professor ja zum Glück nichts.  Aber er kann Andersdenkende einschüchtern, er kann sie mundtot machen, wenn er es schafft,  sie mit professoraler Autorität und medialer Unterstützung in der öffentlichen Meinung zu Quasi-Kriminellen zu stempeln.

Jetzt berichtet Dirk Maxeiner über eine Anfang November gestellte Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen an die Bundesregierung, die ganz der „Klimawandelleugnung“ gewidmet ist.  „Ist der Bundesregierung bekannt“, so wird unter anderem gefragt, „ob Veranstaltungen von Klimawandelleugnern auch von öffentlichen Mitteln finanziert werden, z.B. über das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung?“

Weiterlesen „Grüner Totalitarismus“

Hans-Ulrich Wehler: „Attacke gegen die Meinungsfreiheit“

Was Hans-Ulrich Wehler, der „bedeutendste Sozialhistoriker der Gegenwart“ (Die Zeit),  in Ausgabe 41/2010 der Hamburger Wochenzeitung über Sarrazins Buch und die Folgen schreibt, ist eine schallende Ohrfeige für Merkel, Wulff, Gabriel, Künast und ihre publizistischen fellow travellers:

„Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat.“

Wehler ist nicht nur bedeutender Sozialhistoriker. Er ist auch nicht nur, wie Jürgen Kaube in der FAZ schreibt, „der privaten Gesinnung – nicht der Mitgliedschaft nach – Sozialdemokrat, sondern zusammen mit Jürgen Habermas derjenige Intellektuelle, der das sozialliberale Geschichts- und Gesellschaftsbild in den vergangenen fünfzig Jahren wohl am stärksten wissenschaftlich artikuliert hat.“ Wehler macht sich Sarrazins Aussagen zu Genetik und Erbintelligenz nicht zu eigen und hätte es angemessener gefunden, wenn Sarrazin in diesen Teilen im Konjunktiv formuliert hätte:

Weiterlesen „Hans-Ulrich Wehler: „Attacke gegen die Meinungsfreiheit““

Meinungsfreiheit? Wieso, er lebt doch noch…

Es ist alles gesagt, aber noch nicht von allen. So schreibt Robert Misik, dessen Rabulistik wir neulich schon mal bestaunten,  noch mal auf, „Warum es im Fall Sarrazin nicht um Meinungsfreiheit geht“.

„Kaum jemand konnte in den vergangenen Jahren seine Meinung mit derartiger medialer Unterstützung unter’s Volk bringen wie Thilo Sarrazin. Niemand will ihm dieses Recht nehmen. Wer aber so wie er rede, wird nun aber eingewandt, würde sofort ´öffentlicher Stigmatisierung´ ausgesetzt.“

So weit, so langweilig. Dann fällt Misik aber doch noch etwas Neues ein.  Denen, die in Sachen Sarrazin den Begriff der Meinungsfreiheit strapazierten, sei  vorzuhalten, dass Sarrazin noch lebe:

„Aber es ist nicht nur sachlich falsch, die Entwicklungen in der Causa Sarrazin mit dem hehren Begriff der ´Meinungsfreiheit´ zu verbinden. Es ist auch frivol, schamlos und eine Beleidigung all jener, die wirkliche Verfolgung leiden, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen. Für das Recht, seine Meinung zu äußern, sind Menschen ins KZ gekommen, auch heute gehen in vielen Ländern Menschen für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auf das Schafott. Herr Sarrazin dagegen darf seine Meinung nicht nur äußern, er darf das jetzt sogar ungehindert von allen beruflichen Ablenkungen tun und ihm wird seine Freiheit mit einer Pension von 10.000 Euro pro Monat versüßt. Demnächst hat er von seinem Buch eine Million Exemplare verkauft, wodurch ihm ein Honoraranspruch von schätzungsweise zwei Millionen Euro erwächst.“

Von Meinungsfreiheit darf erst reden, wer Todesängste ausgestanden hat? Oder im Kerker saß? Auf die monströse Idee, Auschwitz gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung zu instrumentalisieren, muss  man erstmal kommen. Im Übrigen verschweigt Misik, dass  Sarrazin sehr wohl um Leib und Leben fürchten musste und seit Wochen Personenschutz benötigte.

 Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke haben Linke einst mit Recht argumentiert, die Springer-Presse, die zuvor wochenlang gegen langhaarige Studenten gehetzt hatte, habe  mitgeschossen. Wer wird mitgeschossen haben, falls Thilo Sarrazin (was wir nicht hoffen wollen) etwas passieren sollte?

„Es geht um Meinungsfreiheit“

Weissgarnix alias Thomas Strobl zitiert unter der Überschrift „Schirrmacher ist baff“ aus der heutigen FAS einen Beitrag Frank Schirrmachers . Schirrmacher wundert sich darin über die Bundeskanzlerin:

“Seit drei Wochen gibt es Sarrazins Buch. Es ist sechshundertfünfzigtausend Mal verkauft worden, und es wird wahrscheinlich vor Weihnachten die Eineinhalbmillionenmarke erreichen. Bei einem Buch, das verliehen und weitergegeben wird, heißt diese Zahl, dass es dann von an die zwölf Millionen Menschen gelesen worden sein kann. Es hat Vergleichbares noch niemals gegeben. Der Autor ist wegen der Buchkritik der Kanzlerin und des Bundesbankchefs und der Winke des Bundespräsidenten mittlerweile arbeitslos, gewiss das Maximum an Bestrafung in einer bürgerlichen Welt. Und jetzt, drei Wochen danach, erklärt die Bundeskanzlerin fast stolz, dass sie das Buch, um dessentwillen sie die Absetzung des Bankers betrieb und das ihr Staatsvolk zutiefst spaltet, immer noch nicht gelesen hat, sondern nur aus Vorabdrucken kennt. Es handelt sich dabei, wohlgemerkt, um Vorabdrucke, die von Gegnern des Buches gerade deshalb kritisiert werden, weil sie so harmlos waren (…)”

Die Meinung von Strobl und Schirrmacher teile ich oft nicht, auch die frühere Schirrmacher-Exegese des Sarrazin-Textes fand ich recht seltsam. Denn Schirrmacher spekulierte darüber, was Sarrazin zwar nicht geschrieben hat, aber eigentlich hätte schreiben wollen. Aber wenn Strobl heute Schirrmacher zustimmend mit der Aussage zitiert

“Und deshalb geht es bei der Sarrazin-Debatte im Kern mittlerweile um nichts anderes als die Meinungsfreiheit”

dann gehe ich damit d´accord. Die teilweise so wüsten wie unqualifizierten Kommentare in seinem eigenem Blog – vielfach von Leuten, die das Buch offensichtlich auch nicht gelesen haben – kann Weissgarnix dabei durchaus als weitere Bestätigung seiner These nehmen.

Merkel, Gabriel, Wulff sowie die selbstgefälligen Blockwarte der political correctness in den Medien werden an ihrem Versagen in dieser Sache noch in Jahren und Jahrzehnten gemessen werden. Die Vernünftigen in diesem Land werden – hoffentlich – verhindern können, dass wirkliche Rassisten am Ende aus dem Buch des angeblichen Rassisten Kapital schlagen können.

Generell verlaufen die politischen Trennlinien, wie Sarrazin zu Recht feststellt (S. 101 f),

„nicht längs der Parteigrenzen oder nach dem klassischen Links-Rechts-Schema. Sie verlaufen vielmehr zum einen zwischen denen, die kurzfristig und jenen, die langfristig denken, und zum anderen zwischen jenen, die Veränderung eher als externes Ereignis und jenen, die Veränderung als Gestaltungsaufgabe auffassen.“

 Machen wir uns nichts vor: Die wirtschaftlichen Verhältnisse werden schwieriger werden, und wirtschaftliche Bedrückung bildet meistens den Humus für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Beides bekämpft man am besten, wenn man Sarrazins Vorschlag (S. 326) folgt und an Einwanderer eine klare Erwartungshaltung formuliert: Ihr seid willkommen. Wenn ihr unsere Sprache lernt,  euren Lebensunterhalt mit Arbeit verdient, Bildungsehrgeiz für eure Kinder habt!

Wie „political correctness“ funktioniert

Das zeigt ein kleines Beispiel aus einem aktuellen ZEIT-Interview mit  Harald Welzer. Der in Essen lehrende Professor für Sozialpsychologie findet Thilo Sarrazins Buch igittigitt:

 „Spätestens als das jüdische Gen ins Spiel kam, war das Buch für mich nicht mehr diskutabel.  Man kann gerne über Migration oder fehlgeleitete Integrationspolitik diskutieren, sollte man auch, aber nicht anhand dieses Akteurs und dieses Buches. Das ist so, als diskutiere man plötzlich mit Holocaustleugnern oder Klimaskeptikern.“

Zum Thema „jüdisches Gen“ ist alles gesagt, siehe hier und hier.

Bemerkenswert ist der letzte Satz. Indem Harald Welzer Holocaustleugner und Klimaskeptiker in einen Topf wirft,  demonstriert er in beispielhafter Weise, mit welchen Einschüchterungsmethoden die political correctness  zu arbeiten pflegt.

Der Holocaust ist tausendfach belegte zeitgeschichtliche Vergangenheit,  kein vernünftiger Mensch leugnet ihn. Darüber hinaus ist die Holocaust-Leugnung in Deutschland sogar ein Straftatbestand.  Dagegen liegt die  Klimakatastrophe – vielleicht – in der Zukunft. Gewissheit kann in dieser Sache kein Mensch haben. Alle Klimamodelle arbeiten notabene nach dem Prinzip „garbage in – garbage out“, und gerade der Weltklimarat hat in jüngster Zeit den Verdacht geweckt, dass ihm im Zweifel die politische Korrektheit vor Wissenschaftlichkeit geht.

Eine im konkreten Zusammenhang eigentlich unbedeutende Randbemerkung des ZEIT-Interviews offenbart, wie aus dem ursprünglich aufklärerisch-kritischen 68er Milieu eine zumindest partiell inquisitorische Gegenaufkärung erwachsen ist. Eine Art Gesinnungs-Saalschutz, der Andersdenkenden anstelle von Argumenten die Instrumente zeigt. Da die ZEIT Harald Welzer in seiner Eigenschaft als Lehrstuhlinhaber interviewt, wird an diesem Beispiel auch deutlich, dass  sich das Denkverbot wie zu Galileis Zeiten mit dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit tarnt.

Der große Lümmel greint

Sarrazin ist binnen zweier Wochen zum „Volkshelden“ (Spiegel) geworden. Warum? Weil er  zur Wahrheit, wie er sie sieht, kein taktisches Verhältnis hat. Dafür lieben ihn die Leute. Damit unterscheidet er sich von all den Schlaumeiern des politisch-publizistischen Komplexes, die sich klug dünken und in der Tat oft auch hochintelligent sind, deren Finten aber „das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich Heine)  satt hat.

Ein vielleicht typischer Repräsentant dieser neunmalklugen politisch-publizistischen Funktionselite ist Michael Spreng, einst Chefredakteur der Bild am Sonntag, Wahlkampfleiter von Stoiber, Berater von Rüttgers, Redaktionsleiter von Maischbergers Talk-Show. Zwei Kostproben seiner vermeintlichen Cleverness lieferte Spreng im Fall Sarrazin.

Erstens gehört er zu denen, die besonders laut bestreiten, dass die Causa Sarrazin mit Meinungsfreiheit etwas zu tun habe. Denn,  sagt Spreng,  „kaum einer durfte in den letzten Jahren den Mund so weit aufreißen wie Thilo Sarrazin.“ Doch die Leute sind nicht so dumm wie Spreng zu glauben scheint. Nach seiner Logik hätte auch die Verfolgung Kurt Westergaards oder Salman Rushdies durch islamistische Fanatiker mit Meinungsfreiheit rein gar nichts zu tun.  Denn die beiden genossen ja sogar noch mehr Publizität als Sarrazin.

Zweitens fand er im 450-Seiten-Wälzer Thilo Sarrazins zielsicher die Stelle, mit der Sigmar Gabriel öffentlichkeitswirksam gegen Thilo Sarrazin punkten könne. Spreng schreibt:

“ Wer sich selbst seiner nicht sicher ist, dies auch noch öffentlich demonstriert, der überzeugt keine Wähler.

Umso unverständlicher ist, dass die SPD in der öffentlichen Diskussion nicht die 50.000-Euro-Trumpfkarte spielt. Sarrazin will Akademikerpaaren, die unter 30 ein Kind bekommen, 50.000 Euro Prämie zahlen. Damit steht er in fundamentalem Gegensatz zur Aufstiegsphilisophie der SPD: Aufstieg durch Bildung. Sarrazin dagegen will aus seiner kruden Sicht von vererbbarer Intelligenz nur die Aufstiegsgewinner belohnen. Verkäuferinnen, AOK-Angestellte, Busfahrer, Facharbeiter sollen leer ausgehen. Geld gibt’s nur  für Akademiker.“

Das veröffentlichte Spreng am Mittwoch letzter Woche, einen Tag später spielte Gabriel prompt in der Illner-Talkshow die vermeintliche Trumpfkarte. Thilo Sarrazin liegt hier auch nach meiner Ansicht völlig daneben. Sein Vorschlag ist blödsinnig. Er leitet sich daraus ab, dass Sarrazin die angeborene Intelligenz überschätzt. Nur geht es hier nicht um die Hauptbotschaft des 450-Seiten starken Sarrazin-Wälzers, sondern um eine eher unbedeutende Randnotiz.

Eine ernsthafte, intellektuell redliche Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazin, das zeigen diese Beispiele, ist vom Berliner politisch-publizistischen Komplex nicht beabsichtigt.  Einer,  der „Niedergang“ sagt anstelle des politisch korrekten Neusprechs vom „demografischen Wandel“,  einer, der statt geschönter Statistiken die echten Zahlen präsentiert, einer, der statt in Legislaturperioden in Generationen denkt, so einer soll als Schmuddelkind ausgegrenzt und in die Ecke gestellt werden.

Aber das Volk, der große Lümmel, fängt an zu greinen. Und das ist gut so.