Nanny-Journalismus im „Spiegel“ – kleines Fallbeispiel

Von „Lügenpresse“ zu reden, halte ich für unangemessen. Erstens, weil der Begriff pauschalisiert. Er tut vielen Journalisten Unrecht. Zweitens, weil die plumpe Lüge in den Medien eher selten ist; sie ist jedenfalls nicht das Hauptproblem. An der Tagesordnung ist vielmehr die subtile Vermischung von Nachricht und Kommentar, die selektive Zusammenstellung von Fakten, das absichtsvolle Zurechtbiegen von Statistiken und Studienergebnissen, mal die Bagatellisierung, mal das Aufbauschen, die Halbwahrheit, die Manipulation. Dies alles resultiert nicht aus düsteren Verschwörungen, sondern aus dem Wunsch vieler Journalisten, durch Erziehung ihrer Leser die Welt zu verbessern. Der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer, einer der wenigen Liberalen in seiner Redaktion, nennt diesen volkspädagogischen Ansatz „Nanny-Journalismus“.

En miniature lässt sich Nanny-Journalismus anlässlich der tätlichen Sexattacken von Arabern und Nordafrikanern auf Frauen in Köln und anderen Städten während der Silvesternacht studieren. Das folgende Beispiel aus dem aktuellen Spiegel ist für sich genommen nicht bedeutend. Aber es zeigt das typische Muster vieler Spiegel-Geschichten. Steht der „Spin“ der Story erstmal fest, werden die Fakten so arrangiert, dass sie  passen und den Check der hauseigenen Dokumentation passieren.

Es überrascht nicht, dass der Spiegel in der „Silvesterfrage“ der Generallinie der Grünen folgt: Nicht Migrantengewalt, sondern Männergewalt sei das Problem – gerade so, als gäbe es im Deutschland des Jahres 2016 eine Macho-Kultur wie in vielen islamischen Ländern. Gerade so, als würden einheimische Männer gewohnheitsmäßig in Rudeln Frauen belästigen, als seien Gruppenvergewaltigungen auf der Kölner Domplatte so häufig wie am Tahir-Platz in Kairo. Der Grünen-Chefin Simone Peter gefiel eine Passage der Titelstory so gut, dass sie Smartphone und Marker zückte um via Twitter ihre Follower teilhaben zu lassen:

 

Unbenannt

Den vom Spiegel hier angeführten Vergleich zum Oktoberfest hatte Rainer Meyer für die FAZ schon ad absurdum geführt als die Spiegel-Ausgabe erschien. Die in der markierten Passage zitierte Studie von 2004 trägt den Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Sie wurde damals vom zuständigen Bundesministerium in Auftrag gegeben (hier die pdf-Datei). Die rund 60 Prozent Frauen, die sich im Laufe ihres Lebens schon einmal belästigt fühlten, gibt es tatsächlich. Ungeachtet dessen führen der Spiegel und Simone Peter ihre Leser in die Irre. „Sexuelle Belästigung“ ist in der Befragungsstudie nämlich die niedrigste Schwelle der erhobenen Gewaltformen („körperliche Gewalt“ und „sexuelle Gewalt“ werden separat erhoben). Eine Liste mit insgesamt 13 Items definierte für die mündlichen Interviews, was unter „sexueller Belästigung“ zu verstehen sei. Dazu gehören unter anderem „obszöne Witze“, das „Nachpfeifen“, das „Angestarrt werden“ oder auch „ungute Gefühle“, sei es durch „Kommentare über meinen Körper,  mein Privatleben oder sexuelle Anspielungen“, sei es weil jemand „mich mehrere Male gefragt hat, ob wir uns treffen könnten.“ Den Tatbestand der „sexuellen Belästigung“ erfüllt laut Studie also ein hartnäckiger Verehrer, wenn er aus Sicht der Frau nicht der Richtige ist.

Das ist ungefähr auf dem Brüderle-Level des unangemessenen Hotelbar-Kompliments und hat mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Männergruppen in der Silvesternacht nichts zu tun. Doch welcher Leser schlägt schon in Studien nach, die der Spiegel zitiert? Simone Peter hätte als Grünen-Chefin auch genug Ressourcen, eine Aussage zu prüfen, bevor sie sie weiterleitet. Doch der Zweck heiligt eben die Mittel. In derselben Spiegel-Ausgabe – sogar in deren Leitartikel – bezeichnet übrigens der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben andersdenkende Journalisten von FAZ, Welt, Cicero und Tichys Einblick in Sachen Flüchtlingspolitik als Hetzer, genauer: als „Salonhetzer“. Es ist derselbe Spiegel-Redakteur, der kürzlich in einer Rede die Ansicht vertrat, Rudolf Augsteins journalistische Maxime „Sagen, was ist“ sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen müsse man sich als Journalist fragen, was aus einer ungefilterten journalistischen Schilderung der Realität folgen könne. Ein Prophet des Nanny-Journalismus, der Leser bevormunden will. Einer, der bereit ist, die Regeln des journalistischen Handwerks, wie der Spiegel-Gründer sie verstand, der Ideologie zu opfern. Die Flüchtlingskrise, so scheint es, wird auch den deutschen Journalismus einem Stresstest unterwerfen.

Muss die Geschichte des Hanns-Joachim-Friedrichs-Zitats völlig neu geschrieben werden?

Die Rede des Spiegel-Reporters Cordt Schnibbens bei der Verleihung des Deutschen Reporterpreises wirbt für Parteilichkeit von Journalisten in der Flüchtlingskrise. Schnibben zitiert – und relativiert – in diesem Zusammenhang den bekannten Ausspruch von Hanns Joachim Friedrichs, wonach sich ein guter Journalist nie mit einer Sache gemein mache, auch nicht mit einer guten. In seiner Rede behauptet Schnibben, nicht nur der „Transporteur“, sondern auch der legitime Interpret dieser Maxime zu sein:

„Heute Nachmittag hat mich eine zweite Sache sehr beschäftigt, nämlich dieses Zitat, was jetzt den Journalisten immer entgegengehalten wird, die sich im weitesten Sinne für die Aufnahme von Flüchtlingen stark machen, nämlich das berühmte Zitat von Hanns Joachim Friedrichs, ein Journalist soll sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.

Ich bin sozusagen nicht Erfinder oder Schöpfer, aber ich bin Transporteur dieses Zitats, weil ich damals zusammen mit Jürgen Leinemann am Sterbebett von … Scheiße … von Hanns Joachim Friedrichs diesen … Entschuldigung … diesen Satz gehört habe und da haben wir natürlich nachgefragt, was meinst du damit? Und er hat es eingegrenzt eigentlich in einem sehr politischen, gerade parteipolitischen Sinne. Also, wenn die SPD das Ehegattensplitting abschafft und ich als Journalist finde es gut, dann darf ich in der Anmoderation des Beitrages nicht erkennen lassen, dass ich das gut finde. Also eine ganz simple, kleine Sache.“

(Anm.: „Scheiße und „Entschuldigung“ waren der Gerührtheit des Redners geschuldet). Das Interview von Cordt Schnibben und seinem (inzwischen verstorbenen) Kollegen Jürgen Leinemann mit Friedrichs erschien in Spiegel 13/1995. In der entscheidenden Passage war allerdings vom Ehegattensplitting keine Rede. Es ging vielmehr um Existenzielles, um Kriegs- und Katastrophenjournalismus:

SPIEGEL: Hat es Sie gestört, daß man als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren muß?

Friedrichs: … Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.

SPIEGEL: Je wichtiger die Nachricht, desto leiser die Stimme?

Friedrichs: Es ist nicht die Aufgabe des Moderators, die Leute zur Betroffenheit zu animieren. Die sollen selber entscheiden, ob sie betroffen sein wollen oder nicht.

IMG_0552Das Interview, das Hanns Joachim Friedrichs den beiden Spiegel-Leuten „am Sterbebett“ 1995 gab, war aber gar nicht die originäre Quelle des berühmten Zitats. Schon 1994 veröffentlichte Friedrichs nämlich seine Biografie unter dem Titel „Journalistenleben“. Darin schilderte er, dass der  BBC-Journalist Charles Wheeler ihn die Maxime der neutralen Berichterstattung gelehrt hatte (Seite 70 f). Hanns Joachim Friedrichs machte sich diese Maxime zu eigen – so sehr, dass er sie prominent auf dem Rücktitel seiner Biografie platzierte (siehe Abb.).

Aus seiner Abneigung gegen missionierende Journalisten und seinem Faible für die Trennung von Meldung und Meinung machte Friedrichs kein Hehl. So schrieb er über den früheren Rundfunk-Intendanten Edmund Gruber (S. 238f):

„Dass in diesem Nachrichtenmonopol der Öffentlich-Rechtlichen eine Verpflichtung steckte, nämlich die, nur nach dem Regelkatalog des publizistischen Handwerks zu arbeiten, wollte (oder konnte) Gruber nicht begreifen. Er holte seine Maßstäbe aus den Tiefen seiner politischen Überzeugung und blieb Ideologe in einem Metier, dessen Aufgabe die Verbreitung von Informationen, nicht aber von Glaubensbekenntnissen ist.“

Ehegattensplitting? Ganz simple, kleine Sache? Die Geschichte des an den Journalistenschulen kursierenden Friedrichs-Zitats muss völlig neu geschrieben werden? Ach was, Herr Schnibben, das nehme ich Ihnen nicht ab.

Sagen, was ist. Aber nur, wenn´s der richtigen Sache dient?

Dem „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben ist es in seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Reporterpreises unbeabsichtigt gelungen, eine zentrale Ursache des Glaubwürdigkeitsproblems vieler Medien bündig darzulegen:

Bei uns im Spiegel, im Atrium steht dieser schöne Spruch von Rudolf Augstein „Sagen, was ist“ und jeden Morgen, wenn ich da in diesen Wochen an diesem Spruch vorbeigekommen bin, habe ich ihn quasi ergänzt „… und bedenken, was daraus folgt.“ Ich glaube, heutzutage kann man nicht einfach sagen, was ist oder schreiben, was ist, sondern man muss sich auch als Journalist darüber klar werden, was man mit dem, was man schreibt, bewirkt.

Rudolf Augstein kann sich nicht mehr wehren. Sein journalistisches Credo hieß gerade nicht „Sagen, was ist – vorausgesetzt, es dient der richtigen Sache.“ Als liberaler Geist – kurzzeitig saß er ja für die FDP im Bundestag – hätte er Schnibben vermutlich gefragt, wieso der sich anmaße, stets besser als andere zu wissen, was richtig sei und wie die Kausalzusammenhänge in hochkomplexen Gesellschaften aussehen würden.

Die volkspädagogisch ambitionierten Bevormundungs- und Erziehungsjournalisten sind es gerade, die vielen deutschen Medien ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert haben. Die Distanzlosigkeit von Journalisten gegenüber Gleichgesinnten aus der Politik spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele Menschen nehmen die sogenannte vierte Gewalt nicht mehr als Kontrollorgan wahr, sondern sehen im politisch-medialen Komplex eine diffuse Einheit, deren Problemlösungskompetenz nicht mehr ausreicht, frühere Versprechungen einzulösen – Wohlstand für alle, gute Bildung, sichere Renten, europäische Einigung etc.

„Wenn die Welt aus den Fugen gerät“, sagt sich verständlicherweise mancher Bürger, „kann es mit der Weisheit der Gestalter aus Politik und Medien ja nicht so weit her sein.“ Deshalb schadet die Anmaßung von Wissen dem Journalismus genauso wie jede augenzwinkernde Kumpanei mit Politikern, die ebenfalls das vermeintlich Richtige wollen.

Reporter, gerade auch solche vom „Spiegel“, täten sich selbst einen Gefallen, wenn sie am  Augsteinschen Diktum „Sagen was ist“ nicht – pardon – herumschnibben würden. Der Beifall, den Schnibben für sein Bekenntnis zum Nudge-Journalismus bekam, zeugt aber von einer Gleichförmigkeit des Denkens in seinem Kollegenkreis, die nicht optimistisch stimmt.

Demokratie-Abgabe für den Rudeljournalismus?

Im aktuellen Stern 1/2013 beklagt Hans-Ulrich Jörges den um sich greifenden “Rudel- journalismus” und erinnert noch einmal daran, dass vor einem Jahr Christian Wulff “von einer Medien-Stampede niedergetrampelt wurde, wie sie mit dieser Wucht und Gleichförmigkeit noch nicht zu erleben war.” Jetzt läuft eine ähnlich massive Kampagne gegen Peer Steinbrück. Der Mann kann sagen, was er will, die Medienmeute findet immer einen Dreh, die Empörungs- maschinerie anzuwerfen und einzelne seiner Aussagen zu skandalisieren. Und wie im Fall Wulff sind auch bei der diesjährigen Winter-Stampede die GEZ-Medien vorn dabei. Weiterlesen „Demokratie-Abgabe für den Rudeljournalismus?“

Fleischhauer will seinen Kaiser Wilhelm wieder haben

Der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer, dem linksliberalen Bildungsbürgertum aus Hamburgs feinem Ortsteil Wellingsbüttel entstammend,  hat letztes Jahr ein launiges Buch geschrieben („Unter Linken“), in dem er seinen Wandel zum Konservativen schildert. Ein aufgeklärter Linker konnte, wenn nicht in allen, so doch in etlichen Punkten durchaus schmunzelnd und mit ein wenig Selbstironie zustimmen.

Doch nun schwätzt sich der Mann um Kopf und Kragen. Er übertrifft um Längen die reflexhafte, verknöchert-dogmatische Besserwisserei, die er auf der linken Seite des politischen Spektrums kritisierte. Was für ein Geschwurbel:

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Ein gefallener Engel als Medienprodukt

Michael Spreng äußerte kürzlich die Meinung, dass die Guttenberg-Affäre auf einen Machtverlust der Medien hinweise:

„Je heftiger die Vorwürfe, um stärker scharten sich die Fans um ihn: Wir lassen uns unseren Guttenberg nicht kaputtmachen. Das hat wie bei jedem Starkult irrationale Züge, das mag man erschreckend finden, aber es ist ein Faktum. Der Starkult immunisiert zu Guttenberg offenbar gegen die Kritik der Medien und der Opposition und gegen die Neider in den eigenen Reihen.

Die politische Kultur in Deutschland hat eine neue Entwicklungsstufe genommen. Die Entmachtung der – je nach Standort – öffentlichen oder veröffentlichten Meinung schreitet voran.“

Das halte ich, mit Verlaub, für Unfug. Es stimmt zwar, dass die veröffentlichte Meinung – dass also die klassischen Medien – an Macht verlieren (warum hingegen die öffentliche Meinung an Macht verlieren sollte, erschließt sich mir nicht). Aber: Ein Beispiel  für den Machtverlust der Medien ist Sarrazin. Guttenberg ist ein Gegenbeispiel.

Sarrazin hatte die Medien fast geschlossen gegen sich – und gewann.  Weil er die Lebenswelt der Normalmenschen realistischer beschrieb als es die in Hamburg-Pöseldorf domizilierenden politisch korrekten Journalisten in den letzten zwanzig Jahren taten. Deshalb gewann er eine schier unglaubliche Anhänger- und Leserschaft. Michael Spreng stand dabei übrigens auf seiten der klassischen Massenmedien und wetterte auf verlorenem Posten mit ziemlich schrägen Argumenten gegen Sarrazin.

Guttenberg bietet hingegen ein Beispiel für die beträchtliche Macht, die Massenmedien auch heute noch haben. In konzertierter Aktion bauten die Medien binnen zweier Jahre einen bis dato Unbekannten zum vermeintlichen Messias auf, zum „starken Mann“, der sich auch optisch von weniger modebewussten Persönlichkeiten des parlamentarischen Betriebs abhob und mit dem im Schloss antrainierten schneidigen Auftritt zur Ausmistung des Augiasstalles bereit schien. Sein penetrantes Posing unterstützen nahezu alle Medien mit einer geradezu erschütternden Bereitwilligkeit. Und wie neulich schon mal gesagt: Nicht wenigen Journalisten fehlt auch die Qualifikation, hohle Phrasendrescherei als solche zu erkennen.

Unkritische Heldenverehrung selbst beim Spiegel (42/2010)

Zur Korrektur des Trugbildes reichen zehn Tage nicht aus

Ein trügerische Bild haben – vielleicht in einem antidemokratischen Affekt, der ihnen selbst nicht bewusst wurde – ganze Heerscharen von Journalisten elektronischer und gedruckter Medien mit medialem Trommelfeuer in die Hirne der Menschen gepflanzt. Relativ seriöse Medien wie zum Beispiel der Spiegel haben ebenso mitgemacht wie die bunten Blätter, die froh waren, endlich wieder vorzeigbare einheimische Blaublüter ablichten zu können. Und zum neuen starken Mann fehlte eigentlich nur noch der deutsche Schäferhund.

Fast wie ein Bravo-Starschnitt: Aufmacherseite der Spiegel-Titelgeschichte „Der Bürgerkönig“ in Nr. 42/2010

Dieses Trugbild wird jetzt korrigiert. Bei manchen Leuten schneller, bei manchen langsamer. Bei fast allen Insidern und Kennern des Wissenschaftsbetriebes  ist Guttenberg als entlarvter Scharlatan  unten durch.  Doch die vielen Klempnermeister und Krankenschwestern, die nie eine Uni von innen gesehen haben, müssen denken, Guttenberg habe bloß ein bisschen geschummelt, so wie jeder in der Schule mal abgeschrieben hat.  Der wissenschaftliche Betrug ist von ihrer Lebenswirklichkeit weit entfernt. Für diese Menschen wird Guttenberg in Zeitlupe vom Sockel fallen. Nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Medien ihn in Zukunft kritischer beschreiben werden. Der hemmungslose Aufschneider, der  letzten Sommer zu Protokoll gab, am Urlaubsstrand gern mal Platon im Original zu lesen „um den Kopf frei zu kriegen“, der hat nun keine Chance mehr.

Auch mit Thomas Strobl stimme ich nicht überein. Er vertrat unter der Überschrift „Aller Lärm umsonst gestern die Meinung, Guttenberg habe es – jedenfalls vorerst – geschafft und sei sogar gestärkt aus dem Skandal hervorgegangen. Doch schon heute ging es  weiter: Klare Betrugsdiagnosen von führenden Wissenschaftlern, die erste Distanzierung bei einem CDU-Ministerpräsidenten, die Spontan-Demo am Potsdamer Platz.

Guttenberg wird gehen

Guttenberg ist nicht zu halten, die Beliebheitswerte, die ihn momentan noch schützen mögen, werden in der nächsten Wochen wie Schnee in der Märzsonne schmelzen. Von Tag zu Tag werden ihn mehr Leute als adligen Schnösel mit geschönter Vita wahrnehmen, der bürgerliche Tugenden mit Füßen trat. Der entweder seine Dissertation im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit schrieb oder dreifach log: in der ehrenwörtlichen Erklärung gegenüber der Universität, gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber dem Parlament.

Prognose: Spätestens im Herbst wird er nicht mehr Bundesminister sein. Ob er irgendwann später eine zweite Chance bekommt, ist eine andere Frage. Die soll er gern haben, wie jeder Mensch.

Lug und Trug sind ministrabel. Vorübergehend.

„Fakt ist: Karl Theodor zu Guttenberg hat bei seiner Dissertation betrogen. Ein Versehen und ein Schludern kann man ausschließen.“  So fasst Stefan Tillman kurz und bündig die Sachlage in seinem heutigen Kommentar in der Financial Times Deutschland zusammen.

Die  Bundeskanzlerin, die das Land noch kürzlich zur „Bildungsrepublik“ beförderte, meiert heute den Wissenschaftsbereich ab: als eine Zone minderer Bedeutung im Vergleich zur hohen Politik, als Zone, in der Lug und Trug zu lässlichen Sünden zusammenschnurren. Angela Merkel nimmt damit ihre Selbstbeschädigung in Kauf – vielleicht, weil sie Guttenberg nicht feuern, sondern auf seinen Rücktritt warten will. Weiterlesen „Lug und Trug sind ministrabel. Vorübergehend.“

Evangelist mit Realitätsverlust?

Der Computerhersteller Dell veranstaltete gestern von 9 bis 16 Uhr in Frankfurt einen sogenannten CAP-Day. CAP steht für Customer Advisory Panel. Zu deutsch: Die Dell-Leute wollten einfach mal in Ruhe mit Kunden reden, um  Kritik und Verbesserungsvorschläge zu hören. So wie früher Tante Emma in ihrem Laden – die wusste halt, was die Leute wollten.

Was macht daraus Dr. Holger Schmidt, der Wirtschaftsredakteur der FAZ, der sich „Netzökonom“ nennt und jeden www-Furz zu bejubeln pflegt? Diesen Tweet:

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Wird die „Zeit“ aus Schaden klug?

Die „Zeit“ boykottiere ich am Kiosk weiterhin.  Doch den Artikel von Bernd Ulrich  „Was ist bloß mit uns los?“ in der heute erschienenen Ausgabe kann ich trotzdem empfehlen. Ulrich analysiert darin das Versagen des journalistischen Mainstreams im zu Ende gehenden Jahr und kommt zu Ergebnissen, die in diesem Blog schon vor Wochen anklangen: Homogenität und Hermetik prägen die Medien. Manche Journalisten, die vor politischer Korrektheit kaum gehen können,  haben sich dem gemeinen Volk und der Realität genauso entfremdet wie Teile der politischen Klasse.

Tja, was ist bloß los mit Euch? aus: Die Zeit v. 16.12.2010

 

Das würdelos-lächerliche, selbstreferenzielle Hochjazzen der Wikileaks-Depeschen durch den „Spiegel“ prangert Ulrich zu Recht an, ebenso wie das lange Schweigen der Presse in Sachen Odenwaldschule. Den schon vor zehn Jahren bekannten sexuellen Missbrauch an der Schule kehrte man lieber unter den Teppich, weil man der Reformpädagogik nicht schaden wollte. 

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Der traurige Robert und die Doppelmoral

Robert Misik, ein linksgerichteter österreichischer Journalist, beschimpft Thilo Sarrazin als „Großmeister der Implausibilitätsmathematik und Intelligenzgen-Eugenik“. Dumm nur, dass  Misik im Jahre 2006 selbst einen Artikel zur Frage „Haben die aschkenasischen Juden ein Intelligenz-Gen?“ in der taz veröffentlicht hatte.  Darin hieß es:

„Es ist eine verstörende Eigenart der neuesten Naturwissenschaften: Ihre Erkenntnisse sind eine knifflige Herausforderung an die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Leider eine, die man einerseits nicht mehr so leicht abtun kann (als „biologischen Obskurantismus“ etwa), deren reale Bedeutung sich andererseits auch nicht ganz einfach beurteilen lässt, handelt es sich doch meist um Forschungsergebnisse auf hoch spezialisierten und recht hermetischen wissenschaftlichen Feldern.“

Dann referierte Misik ausführlich neuere genetische Forschungen aus den USA:

„Genetiker von der Universität Utah wollen nun nachgewiesen haben, dass die aschkenasischen (also die europäischstämmigen) Juden über ein eigenes ´Intelligenz-Gen´ verfügen. Ihre These ist gut vorgetragen: Ein großer Teil der aschkenasischen Juden leidet an einem Gen-Defekt. Das ist zunächst nicht sensationell, sondern kommt häufig vor in Gemeinschaften, die jahrhundertelang eine geschlossene Gemeinschaft bilden (heute würde man ´Parallelgesellschaft´ sagen) und fast ausschließlich untereinander heiraten. Dieser Defekt ist für einige Krankheiten verantwortlich, die nur bzw. außergewöhnlich oft bei aschkenasischen Juden auftreten. Die Forscher stellten sich danach die Frage, warum ein solches Gen in der Evolution überlebte, wenn es doch nur Nachteile hat – dies würde ja dem genetischen Basisprinzip des Survival of the fittest widersprechen.

Ihre Hypothese ist, dass, wie bei anderen Gendefekten auch, das mutierte Gen sowohl Vorteile als auch Nachteile hat – und deswegen evolutionär überdauert, weil Erstere überwiegen. Sie glauben, dass dieses Gen für den aschkenasischen Intelligenzvorteil sorgt und für eine Gruppe, die jahrhundertelang in Europa von Grundbesitz und Macht ausgeschlossen war und in Händler- und Bankerberufe gedrängt wurde, ein besonderes Plus darstellte. Wissenschaftlich exakt beweisen lässt sich das nicht, aber es gibt immerhin ein paar Evidenzen, die die These stützen: So quellen die Kliniken, die die Aschkenasi-Krankheiten behandeln, förmlich über von Ingenieuren, Wissenschaftlern und Rechtsanwälten.“

Und danach schloss Misik damals mit den Worten:

„All das klingt verdammt nach hanebüchener Eugenik, ist aber leider wissenschaftlich nicht unprofund. Der britische Economist widmete den ´Naturgenies´ eine große Story, die New York Times sowieso, im US-Magazin The New Republic zweifelt man kaum mehr daran, dass die Thesen der Wissenschaftler stimmen – dort fragt man sich schon, was daraus folgt, etwa für das Prinzip von der Gleichheit der Menschen. Und jüdische Autoren sorgen sich um den Nachwuchs: Wenn der sich darauf verlässt, genetisch zu den Klugies zu gehören, dann strengt er sich künftig womöglich nicht mehr an.“

Ich verstehe nichts von Humangenetik. Ich finde es aber traurig, dass Robert Misik heute so tut, als hätte er nicht – genau wie Thilo Sarrazin – Ergebnisse aus der Forschung referiert. Dass er heute Sarrazins Fürsprecher als „Freunde der neueren Intelligenzeugenik“ schmäht, um sich dann irgendwo zwischen Häme und Hilflosigkeit zu verheddern:

„Nun, da unsere Freunde der neueren Intelligenzeugenik offenbar ihre Schwierigkeiten mit dem sinnerfassenden Lesen haben, müssen wir hier ein bisschen Nachhilfe geben.

Offenbar können sie zwischen einer originellen wissenschaftlichen Hypothese, die sich auf auffällige Korrelationen stützt, und wissenschaftlichen Fakten, die auch Kausalitäten erklären können, nicht unterscheiden. Zwischen einer Möglichkeit und einem Faktum ist schon ein Unterschied, oder?“

Wissenschaftliche Fakten erklären Kausalitäten und stechen auf diese Weise auffällige Korrelationen aus, die bloß Hypothesen zu stützen vermögen, soso.  Schade, dass Sir Karl Popper nicht mehr miterleben kann,  wie furios heute  in seiner Geburtsstadt Wien die wissenschaftstheoretische Büttenrede  gepflegt wird.

Im Ernst: Warum ist eigentlich Fairness gegenüber dem politischen Gegner so schwierig? Warum kann Robert Misik nicht einfach sagen, dass er Sarrazins Aussagen über den Islam zwar falsch und politisch verheerend finde, dass Sarrazin aber wegen seiner Aussagen über das Judentum von den Franz Josef Wagners dieser Welt zu Unrecht angegriffen worden sei?