„Postfaktischer“ Spiegel-Journalismus

Der Spiegel-Slogan „Keine Angst vor der Wahrheit“ klingt gut,  ähnlich wie Ingeborg Bachmanns berühmter Satz, die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar. Der Spiegel, so die Eigenwerbung, „ist nur der Wahrheit verpflichtet, sonst niemandem. Er zeichnet sich durch gründliche Recherche und verlässliche Qualität aus und steht für investigativen Journalismus.“

Klaus Brinkbäumer aber, der Chefredakteur des Spiegel, behauptet im Leitartikel der aktuellen Ausgabe über den Wahlkämpfer Donald Trump: „Er hat sich der sexuellen Belästigung von Frauen gebrüstet…“. So? Hat er das?  Nein, das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Vielmehr hat Trump vor 13 Jahren – da war er kein Wahlkämpfer – in einem vertraulichen Gespräch gegenüber einem anderen Mann auf vulgäre, unangenehme Art damit geprahlt, jede Frau erobern zu können. Dass es seinerzeit Frauen gab, die Trumpsche Eroberungsbemühungen als sexuelle Belästigungen wahrnahmen, ist durchaus möglich (nach Veröffentlichung der Aufzeichnung meldeten sich einige mit entsprechenden Vorwürfen). Erwiesen ist es allerdings nicht.

Erwiesen ist hingegen, dass Trump-Gegner eine Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Donald Trump und Billy Bush aus dem Jahr 2003 im jetzigen Wahlkampf veröffentlichten – ein Vorgang übrigens, den der Spiegel in anderen Kontexten als grobe Verletzung der Privatsphäre gebrandmarkt hätte. Erwiesen ist auch, dass Trump sich daraufhin für seine privaten Äußerungen aus dem Jahr 2003 am 8. Oktober 2016 ausdrücklich öffentlich entschuldigt hat – hier ist das Video-Statement. „I said it, I was wrong and I apologize“, lautet ein Kernsatz seines Statements.

Fazit: Der Spiegel-Chefredakteur verdreht die Fakten. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass sich der Wahlkämpfer Trump „mit der sexuellen Belästigung von Frauen gebrüstet“ habe. Eine Petitesse, ein Einzelfall? Nun, ein früherer Chefredakteur des Spiegel, der jetzt für die FAZ schreibt, betreibt den „postfaktischen“ Meinungsjournalismus in diesem Fall genauso. Mathias Müller von Blumencron behauptet: „Amerika hat einen Präsidenten, der sich damit rühmt, Frauen in den Schritt zu fassen.“ Hätte er geschrieben  „… der sich früher privat damit rühmte„, hätte man es durchgehen lassen können. So ist es Bullshit.

Donald Trump bietet inhaltlich genug Angriffsflächen, gerade aus liberaler Sicht. Doch das Liberale hat unter Journalisten wenig Freunde. Man erinnere sich, mit welch fragwürdigen Mitteln ein liberaler deutscher Spitzenpolitiker, Rainer Brüderle von der FDP, vor der Bundestagwahl 2013 aus der Stern-Redaktion heraus bekämpft wurde. So bleibt der Eindruck, dass führende Journalisten im Kampf für „das Gute“ und im Vollgefühl der moralischen Überlegenheit meinen, es mit den Fakten nicht so genau nehmen zu müssen. Ihre berechtigte Klage über die Flut der Desinformationen im Internet verliert dadurch an Glaubwürdigkeit.

 

Nanny-Journalismus im „Spiegel“ – kleines Fallbeispiel

Von „Lügenpresse“ zu reden, halte ich für unangemessen. Erstens, weil der Begriff pauschalisiert. Er tut vielen Journalisten Unrecht. Zweitens, weil die plumpe Lüge in den Medien eher selten ist; sie ist jedenfalls nicht das Hauptproblem. An der Tagesordnung ist vielmehr die subtile Vermischung von Nachricht und Kommentar, die selektive Zusammenstellung von Fakten, das absichtsvolle Zurechtbiegen von Statistiken und Studienergebnissen, mal die Bagatellisierung, mal das Aufbauschen, die Halbwahrheit, die Manipulation. Dies alles resultiert nicht aus düsteren Verschwörungen, sondern aus dem Wunsch vieler Journalisten, durch Erziehung ihrer Leser die Welt zu verbessern. Der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer, einer der wenigen Liberalen in seiner Redaktion, nennt diesen volkspädagogischen Ansatz „Nanny-Journalismus“.

En miniature lässt sich Nanny-Journalismus anlässlich der tätlichen Sexattacken von Arabern und Nordafrikanern auf Frauen in Köln und anderen Städten während der Silvesternacht studieren. Das folgende Beispiel aus dem aktuellen Spiegel ist für sich genommen nicht bedeutend. Aber es zeigt das typische Muster vieler Spiegel-Geschichten. Steht der „Spin“ der Story erstmal fest, werden die Fakten so arrangiert, dass sie  passen und den Check der hauseigenen Dokumentation passieren.

Es überrascht nicht, dass der Spiegel in der „Silvesterfrage“ der Generallinie der Grünen folgt: Nicht Migrantengewalt, sondern Männergewalt sei das Problem – gerade so, als gäbe es im Deutschland des Jahres 2016 eine Macho-Kultur wie in vielen islamischen Ländern. Gerade so, als würden einheimische Männer gewohnheitsmäßig in Rudeln Frauen belästigen, als seien Gruppenvergewaltigungen auf der Kölner Domplatte so häufig wie am Tahir-Platz in Kairo. Der Grünen-Chefin Simone Peter gefiel eine Passage der Titelstory so gut, dass sie Smartphone und Marker zückte um via Twitter ihre Follower teilhaben zu lassen:

 

Unbenannt

Den vom Spiegel hier angeführten Vergleich zum Oktoberfest hatte Rainer Meyer für die FAZ schon ad absurdum geführt als die Spiegel-Ausgabe erschien. Die in der markierten Passage zitierte Studie von 2004 trägt den Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Sie wurde damals vom zuständigen Bundesministerium in Auftrag gegeben (hier die pdf-Datei). Die rund 60 Prozent Frauen, die sich im Laufe ihres Lebens schon einmal belästigt fühlten, gibt es tatsächlich. Ungeachtet dessen führen der Spiegel und Simone Peter ihre Leser in die Irre. „Sexuelle Belästigung“ ist in der Befragungsstudie nämlich die niedrigste Schwelle der erhobenen Gewaltformen („körperliche Gewalt“ und „sexuelle Gewalt“ werden separat erhoben). Eine Liste mit insgesamt 13 Items definierte für die mündlichen Interviews, was unter „sexueller Belästigung“ zu verstehen sei. Dazu gehören unter anderem „obszöne Witze“, das „Nachpfeifen“, das „Angestarrt werden“ oder auch „ungute Gefühle“, sei es durch „Kommentare über meinen Körper,  mein Privatleben oder sexuelle Anspielungen“, sei es weil jemand „mich mehrere Male gefragt hat, ob wir uns treffen könnten.“ Den Tatbestand der „sexuellen Belästigung“ erfüllt laut Studie also ein hartnäckiger Verehrer, wenn er aus Sicht der Frau nicht der Richtige ist.

Das ist ungefähr auf dem Brüderle-Level des unangemessenen Hotelbar-Kompliments und hat mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Männergruppen in der Silvesternacht nichts zu tun. Doch welcher Leser schlägt schon in Studien nach, die der Spiegel zitiert? Simone Peter hätte als Grünen-Chefin auch genug Ressourcen, eine Aussage zu prüfen, bevor sie sie weiterleitet. Doch der Zweck heiligt eben die Mittel. In derselben Spiegel-Ausgabe – sogar in deren Leitartikel – bezeichnet übrigens der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben andersdenkende Journalisten von FAZ, Welt, Cicero und Tichys Einblick in Sachen Flüchtlingspolitik als Hetzer, genauer: als „Salonhetzer“. Es ist derselbe Spiegel-Redakteur, der kürzlich in einer Rede die Ansicht vertrat, Rudolf Augsteins journalistische Maxime „Sagen, was ist“ sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen müsse man sich als Journalist fragen, was aus einer ungefilterten journalistischen Schilderung der Realität folgen könne. Ein Prophet des Nanny-Journalismus, der Leser bevormunden will. Einer, der bereit ist, die Regeln des journalistischen Handwerks, wie der Spiegel-Gründer sie verstand, der Ideologie zu opfern. Die Flüchtlingskrise, so scheint es, wird auch den deutschen Journalismus einem Stresstest unterwerfen.

Bedingt preiswürdig: der Kommentar von Anja Reschke

Anja Reschke, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR, wurde von der Jury der Fachzeitschrift Medium Magazin zur „Journalistin des Jahres“ gewählt. Die Ehrung erhält sie für ihren Tagesthemen-Kommentar vom 5. August 2015. „Kein anderer journalistischer Beitrag habe in diesem Jahr so viel Wirkung erzeugt wie dieser Kommentar, befand die Jury laut tagesschau.de. Meine uneingeschränkte Zustimmung fand dieser Kommentar damals nicht, und spätere Entwicklungen bestätigten den zwiespältigen Eindruck.

Der Rundfunkstaatsvertrag definiert die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: „Die Angebote sollen dazu beitragen, die Achtung vor Leben, Freiheit und körperlicher Unversehrtheit, vor Glauben und Meinungen anderer zu stärken.“ Pointierte Kommentare, die das Geschehen einordnen, interpretieren und bewerten, sind dazu besonders geeignet.

Im Tenor des Kommentars wurde Anja Reschke dieser Aufgabe auch gerecht. Sie geißelte mit berechtigter Empörung zahlreiche Brandanschläge und fremdenfeindliche Übergriffe, die jeder vernünftige Mensch verurteilt. Sie mahnte mit Nachdruck die Achtung vor dem Leben, der Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit der Asylbewerber an. Sie rief zur Zivilcourage im Alltag auf.

Zu kritisieren ist aber eine Passage, die zur Schwächung statt zur Stärkung der Meinungsfreiheit beitrug. Anja Reschke fragte rhetorisch, was wohl passieren würde, wenn sie dafür plädieren würde, Wirtschaftsflüchtlinge genauso aufzunehmen wie Kriegsflüchtlinge. Und wählte dann in ihrer Antwort folgende Formulierungen:

„Ich bekäme eine Flut von Hasskommentaren: Scheiß-Kanaken. Wie viele sollen wir denn noch aufnehmen? Sollen abhauen! Soll man anzünden! All sowas halt. Wie üblich.“

Wer die Frage nach einer Obergrenze für (Wirtschafts-)Flüchtlinge stellte („Wie viele sollen wir denn noch aufnehmen?“) wurde also von Anja Reschke in einen Topf geworfen mit einem fremdenfeindlichen Pöbel („Scheiß-Kanaken“), der vor Mordaufrufen („soll man anzünden“) nicht zurückschreckt. Legitime, kritische Fragen wurden auf eine Stufe gestellt mit strafrechtlich relevanten Tatbeständen. Die Funktion dieser Passage bestand in der Einschüchterung derjenigen, denen angesichts einer wachsenden Zahl von Asylbewerbern berechtigte Fragen an die Politik auf der Zunge lagen. Anja Reschke zeigte ihnen die Instrumente: braune Ecke, gesellschaftliche Ächtung, berufliche Nachteile.

Wie stark wirkte die mediale Einschüchterung, für die Anja Reschkes Kommentar nur ein besonders prominentes Beispiel ist? Repräsentative Allensbacher Umfragedaten, Mitte Oktober erhoben, belegen einen enorm wuchtigen Effekt. Renate Köcher, die Leiterin des Instituts, schrieb dazu am 21. Oktober 2015 in der FAZ:

„In jüngster Zeit wird oft davon gesprochen, dass die Stimmung in der Bevölkerung dabei ist zu kippen. Dies trifft nur teilweise zu. Vielmehr zeigen die Daten, dass zunächst viele nicht wagten, sich außerhalb des Kreises vertrauter Gesprächspartner mit ihren Bedenken zu exponieren. Auch jetzt haben noch 43 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung den Eindruck, dass man in Deutschland seine Meinung zu der Flüchtlingssituation nicht frei äußern darf und sehr vorsichtig sein muss, was man sagt.“

Und weiter:

„Die große Mehrheit jener, die der anhaltende Flüchtlingsstrom besorgt stimmt, ist weder ausländerfeindlich noch dem rechten Rand zuzuordnen. Viele fürchten jedoch, dass sie in diesen Verdacht geraten, wenn sie öffentlich ihre Besorgnis äußern.“

Wenn 43 Prozent der Bevölkerung meinen, sich zum derzeit wichtigsten gesellschaftlichen Thema nicht frei äußern zu können, ist das besonders für jene Medien desaströs, die über eine „Demokratieabgabe“ (Jörg Schönenborn) finanziert werden und zur Stärkung der Meinungsfreiheit verpflichtet sind. Meinungsfreiheit ist nach Rosa Luxemburg bekanntlich nicht die Freiheit der Willigen, sondern die Freiheit der Andersdenkenden. Führende Journalisten müssten eigentlich diese Freiheit genauso wie das Grundrecht auf Asyl verteidigen – schließlich kommt mancher Asylbewerber wegen dieser Freiheit.

Muss die Geschichte des Hanns-Joachim-Friedrichs-Zitats völlig neu geschrieben werden?

Die Rede des Spiegel-Reporters Cordt Schnibbens bei der Verleihung des Deutschen Reporterpreises wirbt für Parteilichkeit von Journalisten in der Flüchtlingskrise. Schnibben zitiert – und relativiert – in diesem Zusammenhang den bekannten Ausspruch von Hanns Joachim Friedrichs, wonach sich ein guter Journalist nie mit einer Sache gemein mache, auch nicht mit einer guten. In seiner Rede behauptet Schnibben, nicht nur der „Transporteur“, sondern auch der legitime Interpret dieser Maxime zu sein:

„Heute Nachmittag hat mich eine zweite Sache sehr beschäftigt, nämlich dieses Zitat, was jetzt den Journalisten immer entgegengehalten wird, die sich im weitesten Sinne für die Aufnahme von Flüchtlingen stark machen, nämlich das berühmte Zitat von Hanns Joachim Friedrichs, ein Journalist soll sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.

Ich bin sozusagen nicht Erfinder oder Schöpfer, aber ich bin Transporteur dieses Zitats, weil ich damals zusammen mit Jürgen Leinemann am Sterbebett von … Scheiße … von Hanns Joachim Friedrichs diesen … Entschuldigung … diesen Satz gehört habe und da haben wir natürlich nachgefragt, was meinst du damit? Und er hat es eingegrenzt eigentlich in einem sehr politischen, gerade parteipolitischen Sinne. Also, wenn die SPD das Ehegattensplitting abschafft und ich als Journalist finde es gut, dann darf ich in der Anmoderation des Beitrages nicht erkennen lassen, dass ich das gut finde. Also eine ganz simple, kleine Sache.“

(Anm.: „Scheiße und „Entschuldigung“ waren der Gerührtheit des Redners geschuldet). Das Interview von Cordt Schnibben und seinem (inzwischen verstorbenen) Kollegen Jürgen Leinemann mit Friedrichs erschien in Spiegel 13/1995. In der entscheidenden Passage war allerdings vom Ehegattensplitting keine Rede. Es ging vielmehr um Existenzielles, um Kriegs- und Katastrophenjournalismus:

SPIEGEL: Hat es Sie gestört, daß man als Nachrichtenmoderator ständig den Tod präsentieren muß?

Friedrichs: … Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.

SPIEGEL: Je wichtiger die Nachricht, desto leiser die Stimme?

Friedrichs: Es ist nicht die Aufgabe des Moderators, die Leute zur Betroffenheit zu animieren. Die sollen selber entscheiden, ob sie betroffen sein wollen oder nicht.

IMG_0552Das Interview, das Hanns Joachim Friedrichs den beiden Spiegel-Leuten „am Sterbebett“ 1995 gab, war aber gar nicht die originäre Quelle des berühmten Zitats. Schon 1994 veröffentlichte Friedrichs nämlich seine Biografie unter dem Titel „Journalistenleben“. Darin schilderte er, dass der  BBC-Journalist Charles Wheeler ihn die Maxime der neutralen Berichterstattung gelehrt hatte (Seite 70 f). Hanns Joachim Friedrichs machte sich diese Maxime zu eigen – so sehr, dass er sie prominent auf dem Rücktitel seiner Biografie platzierte (siehe Abb.).

Aus seiner Abneigung gegen missionierende Journalisten und seinem Faible für die Trennung von Meldung und Meinung machte Friedrichs kein Hehl. So schrieb er über den früheren Rundfunk-Intendanten Edmund Gruber (S. 238f):

„Dass in diesem Nachrichtenmonopol der Öffentlich-Rechtlichen eine Verpflichtung steckte, nämlich die, nur nach dem Regelkatalog des publizistischen Handwerks zu arbeiten, wollte (oder konnte) Gruber nicht begreifen. Er holte seine Maßstäbe aus den Tiefen seiner politischen Überzeugung und blieb Ideologe in einem Metier, dessen Aufgabe die Verbreitung von Informationen, nicht aber von Glaubensbekenntnissen ist.“

Ehegattensplitting? Ganz simple, kleine Sache? Die Geschichte des an den Journalistenschulen kursierenden Friedrichs-Zitats muss völlig neu geschrieben werden? Ach was, Herr Schnibben, das nehme ich Ihnen nicht ab.

Sagen, was ist. Aber nur, wenn´s der richtigen Sache dient?

Dem „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben ist es in seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Reporterpreises unbeabsichtigt gelungen, eine zentrale Ursache des Glaubwürdigkeitsproblems vieler Medien bündig darzulegen:

Bei uns im Spiegel, im Atrium steht dieser schöne Spruch von Rudolf Augstein „Sagen, was ist“ und jeden Morgen, wenn ich da in diesen Wochen an diesem Spruch vorbeigekommen bin, habe ich ihn quasi ergänzt „… und bedenken, was daraus folgt.“ Ich glaube, heutzutage kann man nicht einfach sagen, was ist oder schreiben, was ist, sondern man muss sich auch als Journalist darüber klar werden, was man mit dem, was man schreibt, bewirkt.

Rudolf Augstein kann sich nicht mehr wehren. Sein journalistisches Credo hieß gerade nicht „Sagen, was ist – vorausgesetzt, es dient der richtigen Sache.“ Als liberaler Geist – kurzzeitig saß er ja für die FDP im Bundestag – hätte er Schnibben vermutlich gefragt, wieso der sich anmaße, stets besser als andere zu wissen, was richtig sei und wie die Kausalzusammenhänge in hochkomplexen Gesellschaften aussehen würden.

Die volkspädagogisch ambitionierten Bevormundungs- und Erziehungsjournalisten sind es gerade, die vielen deutschen Medien ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert haben. Die Distanzlosigkeit von Journalisten gegenüber Gleichgesinnten aus der Politik spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele Menschen nehmen die sogenannte vierte Gewalt nicht mehr als Kontrollorgan wahr, sondern sehen im politisch-medialen Komplex eine diffuse Einheit, deren Problemlösungskompetenz nicht mehr ausreicht, frühere Versprechungen einzulösen – Wohlstand für alle, gute Bildung, sichere Renten, europäische Einigung etc.

„Wenn die Welt aus den Fugen gerät“, sagt sich verständlicherweise mancher Bürger, „kann es mit der Weisheit der Gestalter aus Politik und Medien ja nicht so weit her sein.“ Deshalb schadet die Anmaßung von Wissen dem Journalismus genauso wie jede augenzwinkernde Kumpanei mit Politikern, die ebenfalls das vermeintlich Richtige wollen.

Reporter, gerade auch solche vom „Spiegel“, täten sich selbst einen Gefallen, wenn sie am  Augsteinschen Diktum „Sagen was ist“ nicht – pardon – herumschnibben würden. Der Beifall, den Schnibben für sein Bekenntnis zum Nudge-Journalismus bekam, zeugt aber von einer Gleichförmigkeit des Denkens in seinem Kollegenkreis, die nicht optimistisch stimmt.

Einwanderungsrecht vor Eigentumsrecht?

Thomas Schmid, von 2006 bis 2014 erst Chefredakteur und dann Herausgeber von Axel Springers „Die Welt“, einst auch als Grünen-Politiker aktiv, hat einen Essay über Europas Flüchtlingskrise verfasst. Ich habe ihn gern gelesen – ohne überall zuzustimmen -, weil er abwägt und differenziert, während viele Kommentare in der gegenwärtig eh aufgeheizten Stimmung nur holzschnittartig bekannte Standpunkte wiederholen und die Realität selektiv wahrnehmen. Schmid zieht allerdings eine Schlussfolgerung, die ich verstörend finde. Ich zitiere den ganzen letzten Absatz und hebe die entscheidenden Formulierungen durch Fettung hervor:

Weiterlesen „Einwanderungsrecht vor Eigentumsrecht?“

Die Fortsetzung der Reklame mit anderen Mitteln in der „Zeit“

„Die Verantwortung der Presse gegenüber der Öffentlichkeit gebietet, dass redaktionelle Veröffentlichungen nicht durch private oder geschäftliche Interessen Dritter oder durch persönliche wirtschaftliche Interessen der Journalistinnen und Journalisten beeinflusst werden.“ So steht es unmissverständlich in Ziffer 7 des Pressekodex. Weiterlesen „Die Fortsetzung der Reklame mit anderen Mitteln in der „Zeit““

Wie Linke und Grüne doch noch die Demografie lieben lernten

Viele Linke begründen heute ihr Plädoyer für Einwanderung damit, dass die stark alternden und zahlenmäßig schrumpfenden Deutschen Einwanderung brauchen, wenn sie den Lebensstandard und die Sozialsysteme erhalten wollen. Das ist grundsätzlich richtig. Es ist zwar schräge, in diesem Kontext für eine großzügige Praxis der Asylpolitik zu werben. Denn das Asylrecht ist für Einwanderung nach dem Nützlichkeitsprinzip bekanntlich nicht gemacht. Wer als politisch Verfolgter oder Kriegsflüchtling Schutz sucht, ist nach unserer Verfassung unabhängig davon aufzunehmen, ob er mutmaßlich die Sozialsysteme eines Tages mit tragen oder sie – im Gegenteil – dauerhaft belasten wird.

Unbenannt

Aber sei´s drum. Ich möchte auf etwas Anderes hinaus.

Weiterlesen „Wie Linke und Grüne doch noch die Demografie lieben lernten“

Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten (2)

„In Paris haben Terroristen der´Lügenpresse´das Maul gestopft“, schrieb FAZ-Herausgeber Berthold Kohler am Tag nach den Morden im ersten Satz des Leitartikel auf der Titelseite seiner Zeitung. Mit dem Wort „Lügenpresse“ spielte er auf die Dresdner Pegida-Demonstranten an. Die hatten das Wort bekanntlich skandiert. An späterer Stelle seines Artikels erklärte Berthold Kohler dann, wie sein Eingangssatz zu verstehen sei:

Weiterlesen „Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten (2)“

Ein paar merkwürdige Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten

Das ging fix: Wenige Stunden nach den Morden an Journalisten und Polizisten in Paris, klingt es bei manchen Journalisten, als wären die Opfer ein bisschen selbst schuld. Nach dem Motto: Warum musste die Satirezeitschrift Charlie Hebdo die sensiblen Moslems auch provozieren?

„Schon die Gründung des Magazins verdankt sich einem Skandal, bei dem die Provokation mitten ins Herz einer Gesellschaft ging …“, schreibt Claudia Tieschky auf sueddeutsche,de. „Geschmacklos und böse“ sei das Magazin immer wieder gewesen, teilt sie mit. Und:

„Besonders große Aufmerksamkeit brachten zuletzt Provokationen, die islamischen Bürgern Toleranz abverlangten …“

Als wäre es nicht ein Wesensmerkmal säkularisierter demokratischer Rechtsstaaten, allen Bürgern  Toleranz gegenüber Andersdenkenden abzuverlangen und ihnen, wenn sie sich denn beleidigt fühlten, den Rechtsweg offen zu halten.

Weiterlesen „Ein paar merkwürdige Journalisten-Reaktionen auf den Mord an Journalisten“