Nanny-Journalismus im „Spiegel“ – kleines Fallbeispiel

Von „Lügenpresse“ zu reden, halte ich für unangemessen. Erstens, weil der Begriff pauschalisiert. Er tut vielen Journalisten Unrecht. Zweitens, weil die plumpe Lüge in den Medien eher selten ist; sie ist jedenfalls nicht das Hauptproblem. An der Tagesordnung ist vielmehr die subtile Vermischung von Nachricht und Kommentar, die selektive Zusammenstellung von Fakten, das absichtsvolle Zurechtbiegen von Statistiken und Studienergebnissen, mal die Bagatellisierung, mal das Aufbauschen, die Halbwahrheit, die Manipulation. Dies alles resultiert nicht aus düsteren Verschwörungen, sondern aus dem Wunsch vieler Journalisten, durch Erziehung ihrer Leser die Welt zu verbessern. Der Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer, einer der wenigen Liberalen in seiner Redaktion, nennt diesen volkspädagogischen Ansatz „Nanny-Journalismus“.

En miniature lässt sich Nanny-Journalismus anlässlich der tätlichen Sexattacken von Arabern und Nordafrikanern auf Frauen in Köln und anderen Städten während der Silvesternacht studieren. Das folgende Beispiel aus dem aktuellen Spiegel ist für sich genommen nicht bedeutend. Aber es zeigt das typische Muster vieler Spiegel-Geschichten. Steht der „Spin“ der Story erstmal fest, werden die Fakten so arrangiert, dass sie  passen und den Check der hauseigenen Dokumentation passieren.

Es überrascht nicht, dass der Spiegel in der „Silvesterfrage“ der Generallinie der Grünen folgt: Nicht Migrantengewalt, sondern Männergewalt sei das Problem – gerade so, als gäbe es im Deutschland des Jahres 2016 eine Macho-Kultur wie in vielen islamischen Ländern. Gerade so, als würden einheimische Männer gewohnheitsmäßig in Rudeln Frauen belästigen, als seien Gruppenvergewaltigungen auf der Kölner Domplatte so häufig wie am Tahir-Platz in Kairo. Der Grünen-Chefin Simone Peter gefiel eine Passage der Titelstory so gut, dass sie Smartphone und Marker zückte um via Twitter ihre Follower teilhaben zu lassen:

 

Unbenannt

Den vom Spiegel hier angeführten Vergleich zum Oktoberfest hatte Rainer Meyer für die FAZ schon ad absurdum geführt als die Spiegel-Ausgabe erschien. Die in der markierten Passage zitierte Studie von 2004 trägt den Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Sie wurde damals vom zuständigen Bundesministerium in Auftrag gegeben (hier die pdf-Datei). Die rund 60 Prozent Frauen, die sich im Laufe ihres Lebens schon einmal belästigt fühlten, gibt es tatsächlich. Ungeachtet dessen führen der Spiegel und Simone Peter ihre Leser in die Irre. „Sexuelle Belästigung“ ist in der Befragungsstudie nämlich die niedrigste Schwelle der erhobenen Gewaltformen („körperliche Gewalt“ und „sexuelle Gewalt“ werden separat erhoben). Eine Liste mit insgesamt 13 Items definierte für die mündlichen Interviews, was unter „sexueller Belästigung“ zu verstehen sei. Dazu gehören unter anderem „obszöne Witze“, das „Nachpfeifen“, das „Angestarrt werden“ oder auch „ungute Gefühle“, sei es durch „Kommentare über meinen Körper,  mein Privatleben oder sexuelle Anspielungen“, sei es weil jemand „mich mehrere Male gefragt hat, ob wir uns treffen könnten.“ Den Tatbestand der „sexuellen Belästigung“ erfüllt laut Studie also ein hartnäckiger Verehrer, wenn er aus Sicht der Frau nicht der Richtige ist.

Das ist ungefähr auf dem Brüderle-Level des unangemessenen Hotelbar-Kompliments und hat mit den gewalttätigen Ausschreitungen von Männergruppen in der Silvesternacht nichts zu tun. Doch welcher Leser schlägt schon in Studien nach, die der Spiegel zitiert? Simone Peter hätte als Grünen-Chefin auch genug Ressourcen, eine Aussage zu prüfen, bevor sie sie weiterleitet. Doch der Zweck heiligt eben die Mittel. In derselben Spiegel-Ausgabe – sogar in deren Leitartikel – bezeichnet übrigens der Spiegel-Redakteur Cordt Schnibben andersdenkende Journalisten von FAZ, Welt, Cicero und Tichys Einblick in Sachen Flüchtlingspolitik als Hetzer, genauer: als „Salonhetzer“. Es ist derselbe Spiegel-Redakteur, der kürzlich in einer Rede die Ansicht vertrat, Rudolf Augsteins journalistische Maxime „Sagen, was ist“ sei nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen müsse man sich als Journalist fragen, was aus einer ungefilterten journalistischen Schilderung der Realität folgen könne. Ein Prophet des Nanny-Journalismus, der Leser bevormunden will. Einer, der bereit ist, die Regeln des journalistischen Handwerks, wie der Spiegel-Gründer sie verstand, der Ideologie zu opfern. Die Flüchtlingskrise, so scheint es, wird auch den deutschen Journalismus einem Stresstest unterwerfen.

Sagen, was ist. Aber nur, wenn´s der richtigen Sache dient?

Dem „Spiegel“-Reporter Cordt Schnibben ist es in seiner Rede zur Verleihung des Deutschen Reporterpreises unbeabsichtigt gelungen, eine zentrale Ursache des Glaubwürdigkeitsproblems vieler Medien bündig darzulegen:

Bei uns im Spiegel, im Atrium steht dieser schöne Spruch von Rudolf Augstein „Sagen, was ist“ und jeden Morgen, wenn ich da in diesen Wochen an diesem Spruch vorbeigekommen bin, habe ich ihn quasi ergänzt „… und bedenken, was daraus folgt.“ Ich glaube, heutzutage kann man nicht einfach sagen, was ist oder schreiben, was ist, sondern man muss sich auch als Journalist darüber klar werden, was man mit dem, was man schreibt, bewirkt.

Rudolf Augstein kann sich nicht mehr wehren. Sein journalistisches Credo hieß gerade nicht „Sagen, was ist – vorausgesetzt, es dient der richtigen Sache.“ Als liberaler Geist – kurzzeitig saß er ja für die FDP im Bundestag – hätte er Schnibben vermutlich gefragt, wieso der sich anmaße, stets besser als andere zu wissen, was richtig sei und wie die Kausalzusammenhänge in hochkomplexen Gesellschaften aussehen würden.

Die volkspädagogisch ambitionierten Bevormundungs- und Erziehungsjournalisten sind es gerade, die vielen deutschen Medien ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert haben. Die Distanzlosigkeit von Journalisten gegenüber Gleichgesinnten aus der Politik spielt dabei eine wichtige Rolle. Viele Menschen nehmen die sogenannte vierte Gewalt nicht mehr als Kontrollorgan wahr, sondern sehen im politisch-medialen Komplex eine diffuse Einheit, deren Problemlösungskompetenz nicht mehr ausreicht, frühere Versprechungen einzulösen – Wohlstand für alle, gute Bildung, sichere Renten, europäische Einigung etc.

„Wenn die Welt aus den Fugen gerät“, sagt sich verständlicherweise mancher Bürger, „kann es mit der Weisheit der Gestalter aus Politik und Medien ja nicht so weit her sein.“ Deshalb schadet die Anmaßung von Wissen dem Journalismus genauso wie jede augenzwinkernde Kumpanei mit Politikern, die ebenfalls das vermeintlich Richtige wollen.

Reporter, gerade auch solche vom „Spiegel“, täten sich selbst einen Gefallen, wenn sie am  Augsteinschen Diktum „Sagen was ist“ nicht – pardon – herumschnibben würden. Der Beifall, den Schnibben für sein Bekenntnis zum Nudge-Journalismus bekam, zeugt aber von einer Gleichförmigkeit des Denkens in seinem Kollegenkreis, die nicht optimistisch stimmt.