Laut Süddeutsche Zeitung vom Donnerstag (2. 9.2010) beklagt Erhard Eppler, dass keiner „in den Gremien“ das Buch von Thilo Sarrazin zur Gänze kenne (gemeint sind die SPD-Gremien). „Und deshalb scheint mir diese Entscheidung zumindest voreilig zu sein“ (gemeint ist die Entscheidung zur Einleitung des Parteiausschlussverfahrens).
Egon Bahr mag laut SZ auch noch kein Urteil fällen: „Das Buch hat mehr als 450 Seiten. Ich bin jetzt ungefähr auf Seite 38. Ich habe bisher nichts gelesen, an dem ich mich stoßen würde.“
Während also die großen alten Männer der SPD, die Weggefährten Willy Brandts, erstmal genau hinschauen wollen, bevor sie sich ein Urteil über Sarrazins Buch erlauben, verpasst die Parteispitze der SPD in Person des früheren Popbeauftragten Sigmar Gabriel dem Buchautoren unverzüglich das Attribut „menschenverachtend“ und gibt so den Unbequemen ganz nebenbei auch zum Abschuss bei der Bundesbank frei, zur Vernichtung der beruflichen Existenz. Gabriel ist sich einig mit Guido Westerwelle, der am 29. August zur Causa Sarrazin in staatsmännischer Pose erklärt hatte:
„Wortmeldungen, die Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten, haben in der politischen Diskussion nichts zu suchen.“
Laut Presseberichten gehört Sarrazin seit 35 Jahren der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Aber keiner in der Parteiführung kommt auf die Idee, Sarrazin gegen Westerwelles absurden Antisemititismus-Vorwurf zu verteidigen. Das muss am Ende der Journalist Josef Joffe übernehmen:
„Wieso ist es »Antisemitismus« (Westerwelle), wenn einer behauptet, Juden teilten ein »bestimmtes Gen«? »Ein« Gen ist zwar Unsinn, aber es gibt genug Studien, wonach sich Juden in diversen Diaspora-Gruppen genetisch sehr wohl von Nichtjuden in der jeweiligen Region unterscheiden. Kein Wunder auch, wenn eine Gruppe die Endogamie selber wählt oder sie erleiden muss.“
Wahrscheinlich gerät demnächst unter Rassismus-Verdacht, wer sagt, dass Eskimos und Schwarze sich genetisch unterscheiden. Auch Frank Schirrmacher nutzt in intellektuell unredlicher Weise Sarrazins Interview-Irrtum mit dem „einen Gen“ aus, um ihn unter bösen Verdacht zu stellen.
„Die Frage, ob Herr Sarrazin als Mensch Rassist ist oder nicht, die können wir uns alle am Ende noch mal vorlegen, nach dieser Debatte. Aber vorher muss man sehen, was sagt dieser Mann, warum findet es solche Resonanz, was ist daran richtig, was ist daran nicht richtig? Nehmen Sie das Beispiel mit dem sogenannten Juden-Gen. Das stimmt einfach nicht. Übrigens gibt es auch kein Intelligenz-Gen. Und dieser Biologismus eines Autodidakten ist wirklich wahnsinnig gefährlich.“
Nein, es gibt kein Intelligenz-Gen. Aber selbstverständlich eine genetische Dimension der Intelligenz. Schirrmacher, selbst Autodidakt auf fast allen Gebieten, schwurbelt hier bösartig über den „Biologismus eines Autodidakten“ als hätte er sein eigenes „Minimum“-Buch nicht gelesen.
Einer besonders originellen Argumentation bedient sich Schirrmacher, um Sarrazin des „Vulgärdarwinismus“ zu überführen, was immer das sein mag. Sarrazin, sagt Schirrmacher, meine eben etwas ganz anderes als er schreibe:
„So ist etwa seine These, die muslimischen Migranten hätten den Deutschen keinen ökonomischen Nutzen gebracht, nur vordergründig ökonomisch. In der Logik seines Buchs handelt es sich bei dem Nützlichkeitsargument um einen zentralen Pfeiler der Darwinschen Züchtungstheorie, denn Selektion, so Darwin, folgt den Gesetzen der Nützlichkeit.“
Tja, nehmt euch zukünftig in Acht, ihr Volks- und Betriebswirte, wenn ihr Kosten und Nutzen abwägt! Vielleicht seid ihr nur gut getarnte Anhänger der Menschenzucht.
Noch toller als Schirrmacher treibt es der Journalist Wolfgang Michal bei Carta. In einem (erbärmlich schwachen) satirischen Beitrag bezichtigt er Sarrazin unter anderem der Homophobie. Als ein Kommentator ihn darauf aufmerksam macht, dass Thilo Sarrazin noch niemals etwas gegen Homosexuelle gesagt habe, antwortet Michal „noch nicht“. Am besten, die Gesinnungspolizei nähme Elemente wie Sarrazin in Vorbeugehaft, nicht wahr, Herr Michal?
Die genannten Westerwelle, Schirrmacher und Michal sind nur drei Beispiele dafür, wie nahezu die gesamte politische und publizistische Klasse dem unliebsamen und unverblümt, subjektiv ehrlich und zweifellos oft polemisch formulierenden Debattenteilnehmer Thilo Sarrazin das Wort im Mund herumdreht. An Sarrazin soll ein Exempel statuiert werden. Wer im Unterschied zu Sarrazin nicht finanziell abgesichert ist, sondern für seine Familie die Brötchen verdienen muss, der soll sich zukünftig gut überlegen, ob seine Thesen zur political correctness von Claudia Roth und Renate Künast, Angela Merkel und dem unsäglich eitlen Großinquisitor Michel Friedman passen.
„Freedom dies by inches“, sagt der Angelsachse, die Freiheit stirbt zentimeterweise. Das war keine gute Woche für die Meinungsfreiheit in Deutschland. Das war keine gute Woche für die SPD und ihren Schnellrichter Gabriel. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden – da hatte die rote Rosa schon ganz Recht.
Ich habe Thilo Sarrazins Buch nicht gelesen, nur ein paar Seiten Vorabdruck im Spiegel. Ich habe aus dem bisher Gehörten und Gelesenen den Eindruck, dass Sarrazin das Psychologenkonstrukt „Intelligenz“ und die Möglichkeiten seiner Messung überschätzt und die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die individuelle Chance, ein gegebenes Intelligenzpotenzial überhaupt zu nutzen, unterschätzt. Und ich bin überzeugt, dass Sarrazin Probleme anspricht, die von denjenigen verkleistert werden, die noch kürzlich Sprachkurse für ausländische Kinder als „Zwangsgermanisierung“ empört zurückgewiesen haben.
Sarrazin, schreibt Cora Stephan,
„ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden… Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wählerschaft eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, daß sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amts wegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert.“
So ist es. Ich frage mich, welcher Teufel die Sozialdemokratie und darüber hinaus die politisch-publizistische Klasse geritten hat, sich nahezu gleichgeschaltet auf eine solche Hexenjagd zu begeben. Auch für private wie öffentlich-rechtliche Medien wird die über weite Strecken brutale Mundtotmachung eines unbequemen und womöglich in manchen Punkten irrenden Kritikers Langzeitfolgen haben, die noch gar nicht abzusehen sind. Wie schon beim Rücktritt Köhlers zeigt sich, dass die veröffentlichte und die öffentliche Meinung weit auseinanderklaffen. Wer glaubt, das würde ohne Folgen bleiben, ist ein Narr. „Der Fall Sarrazin“, schreibt Cora Stephan, „ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.“
Nachtrag:
Hier noch eine Anmerkung von Cora Stephan bei welt.de:
„Die Bundeskanzlerin gerierte sich als Oberzensorin, obwohl sie das Buch des Autors gar nicht gelesen hatte, empfahl hernach dem Vorstand der Bundesbank öffentlich, sich von Thilo Sarrazin zu trennen, und lobte zum Schluss dessen „unabhängige Entscheidung“. Sollte das ein Scherz sein? Und was ist von einem Bundespräsidenten zu halten, der sich eilfertig als Erfüllungsgehilfe annonciert? Langsam ahnt man, was Altbundespräsident Köhler dazu bewogen haben könnte, den Bettel hinzuschmeißen. Soviel Arroganz gegenüber den Regeln der Demokratie hat man hierzulande selten erlebt. Und jetzt möchte unsere verlogene Elite, nachdem der Provokateur entfernt ist, endlich über das „Megathema der nächsten Jahre“ diskutieren: über Integration.“