Hans-Ulrich Wehler: „Attacke gegen die Meinungsfreiheit“

Was Hans-Ulrich Wehler, der „bedeutendste Sozialhistoriker der Gegenwart“ (Die Zeit),  in Ausgabe 41/2010 der Hamburger Wochenzeitung über Sarrazins Buch und die Folgen schreibt, ist eine schallende Ohrfeige für Merkel, Wulff, Gabriel, Künast und ihre publizistischen fellow travellers:

„Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat.“

Wehler ist nicht nur bedeutender Sozialhistoriker. Er ist auch nicht nur, wie Jürgen Kaube in der FAZ schreibt, „der privaten Gesinnung – nicht der Mitgliedschaft nach – Sozialdemokrat, sondern zusammen mit Jürgen Habermas derjenige Intellektuelle, der das sozialliberale Geschichts- und Gesellschaftsbild in den vergangenen fünfzig Jahren wohl am stärksten wissenschaftlich artikuliert hat.“ Wehler macht sich Sarrazins Aussagen zu Genetik und Erbintelligenz nicht zu eigen und hätte es angemessener gefunden, wenn Sarrazin in diesen Teilen im Konjunktiv formuliert hätte:

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„Es geht um Meinungsfreiheit“

Weissgarnix alias Thomas Strobl zitiert unter der Überschrift „Schirrmacher ist baff“ aus der heutigen FAS einen Beitrag Frank Schirrmachers . Schirrmacher wundert sich darin über die Bundeskanzlerin:

“Seit drei Wochen gibt es Sarrazins Buch. Es ist sechshundertfünfzigtausend Mal verkauft worden, und es wird wahrscheinlich vor Weihnachten die Eineinhalbmillionenmarke erreichen. Bei einem Buch, das verliehen und weitergegeben wird, heißt diese Zahl, dass es dann von an die zwölf Millionen Menschen gelesen worden sein kann. Es hat Vergleichbares noch niemals gegeben. Der Autor ist wegen der Buchkritik der Kanzlerin und des Bundesbankchefs und der Winke des Bundespräsidenten mittlerweile arbeitslos, gewiss das Maximum an Bestrafung in einer bürgerlichen Welt. Und jetzt, drei Wochen danach, erklärt die Bundeskanzlerin fast stolz, dass sie das Buch, um dessentwillen sie die Absetzung des Bankers betrieb und das ihr Staatsvolk zutiefst spaltet, immer noch nicht gelesen hat, sondern nur aus Vorabdrucken kennt. Es handelt sich dabei, wohlgemerkt, um Vorabdrucke, die von Gegnern des Buches gerade deshalb kritisiert werden, weil sie so harmlos waren (…)”

Die Meinung von Strobl und Schirrmacher teile ich oft nicht, auch die frühere Schirrmacher-Exegese des Sarrazin-Textes fand ich recht seltsam. Denn Schirrmacher spekulierte darüber, was Sarrazin zwar nicht geschrieben hat, aber eigentlich hätte schreiben wollen. Aber wenn Strobl heute Schirrmacher zustimmend mit der Aussage zitiert

“Und deshalb geht es bei der Sarrazin-Debatte im Kern mittlerweile um nichts anderes als die Meinungsfreiheit”

dann gehe ich damit d´accord. Die teilweise so wüsten wie unqualifizierten Kommentare in seinem eigenem Blog – vielfach von Leuten, die das Buch offensichtlich auch nicht gelesen haben – kann Weissgarnix dabei durchaus als weitere Bestätigung seiner These nehmen.

Merkel, Gabriel, Wulff sowie die selbstgefälligen Blockwarte der political correctness in den Medien werden an ihrem Versagen in dieser Sache noch in Jahren und Jahrzehnten gemessen werden. Die Vernünftigen in diesem Land werden – hoffentlich – verhindern können, dass wirkliche Rassisten am Ende aus dem Buch des angeblichen Rassisten Kapital schlagen können.

Generell verlaufen die politischen Trennlinien, wie Sarrazin zu Recht feststellt (S. 101 f),

„nicht längs der Parteigrenzen oder nach dem klassischen Links-Rechts-Schema. Sie verlaufen vielmehr zum einen zwischen denen, die kurzfristig und jenen, die langfristig denken, und zum anderen zwischen jenen, die Veränderung eher als externes Ereignis und jenen, die Veränderung als Gestaltungsaufgabe auffassen.“

 Machen wir uns nichts vor: Die wirtschaftlichen Verhältnisse werden schwieriger werden, und wirtschaftliche Bedrückung bildet meistens den Humus für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Beides bekämpft man am besten, wenn man Sarrazins Vorschlag (S. 326) folgt und an Einwanderer eine klare Erwartungshaltung formuliert: Ihr seid willkommen. Wenn ihr unsere Sprache lernt,  euren Lebensunterhalt mit Arbeit verdient, Bildungsehrgeiz für eure Kinder habt!

Wer fliegt alles aus der SPD?

Die SPD-Führung und ihr (vermutlich unaufgefordert tätiger) Berater Michael Spreng  irren oder heucheln, wenn sie Thilo Sarrazin wegen gewisser bevölkerungspolitischer Äußerungen des unsozialdemokratischen Denkens bezichtigen, um ihn aus der Partei werfen zu können. 

Die Wahrheit ist nämlich, dass in allen Parteien seit einigen Jahren nicht nur über die niedrige Geburtenzahl, sondern durchaus auch über die Verteilung der Geburten auf  soziale Schichten  diskutiert wird.  Ein scharfer Kritiker dieser Diskussion wie Andreas Kemper bezeichnet das Elterngeld sogar als „sozialeugenische Maßnahme“ und schreibt zur Begründung:

„Sowohl die Architektin des Elterngeldes, die sozialdemokratische ehemalige Familienministerin Renate Schmidt, als auch die Bundeskanzlerin Merkel, betonen, dass es beim Elterngeld darum geht, die Zahl der Akademikerkinder zu erhöhen.“

Tatsächlich:  „Kinderreichtum bei den Benachteiligten, Kinderarmut bei der restlichen Bevölkerung hat gravierende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung…“ , hieß es schon 2001 in einem sozialdemokratischen Papier. Renate Schmidt, Familienministerin von 2002 bis 2005, veröffentlichte damals Überlegungen zur  „Familienpolitik für das 21. Jahrhundert“ . Darin hieß es über Vorschläge von  CDU/CSU-Vertretern  zu einem Erziehungsgehalt:

„Außerdem muss auch noch einmal problematisiert werden, für wen solche Konzepte attraktiv sind. Es sind vor allem die Familien mit den niedrigsten Einkommen. Kinderreichtum (3 Kinder und mehr) tritt schon heute in einem schmalen Bereich am oberen Ende der Einkommensskala und vor allem am unteren Ende auf. Mittelschichtfrauen beschränken sich aus den geschilderten Gründen auf 0-2 Kinder.

Kinderreichtum bei den Benachteiligten, Kinderarmut bei der restlichen Bevölkerung hat gravierende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung und muss um so kritischer gesehen werden, wenn Erziehungsgehaltkonzepte davon ausgehen, dass Familien Kinderbetreuungseinrichtungen bei Inanspruchnahme des Erziehungsgehaltes nicht wahrnehmen oder deutlich teurer als bisher bezahlen müssen.“

Wie viele Genossinnen und Genossen wollen Gabriel und Nahles eigentlich ausschließen? Und wie viele Wähler veräppeln?

 

Der große Lümmel greint

Sarrazin ist binnen zweier Wochen zum „Volkshelden“ (Spiegel) geworden. Warum? Weil er  zur Wahrheit, wie er sie sieht, kein taktisches Verhältnis hat. Dafür lieben ihn die Leute. Damit unterscheidet er sich von all den Schlaumeiern des politisch-publizistischen Komplexes, die sich klug dünken und in der Tat oft auch hochintelligent sind, deren Finten aber „das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich Heine)  satt hat.

Ein vielleicht typischer Repräsentant dieser neunmalklugen politisch-publizistischen Funktionselite ist Michael Spreng, einst Chefredakteur der Bild am Sonntag, Wahlkampfleiter von Stoiber, Berater von Rüttgers, Redaktionsleiter von Maischbergers Talk-Show. Zwei Kostproben seiner vermeintlichen Cleverness lieferte Spreng im Fall Sarrazin.

Erstens gehört er zu denen, die besonders laut bestreiten, dass die Causa Sarrazin mit Meinungsfreiheit etwas zu tun habe. Denn,  sagt Spreng,  „kaum einer durfte in den letzten Jahren den Mund so weit aufreißen wie Thilo Sarrazin.“ Doch die Leute sind nicht so dumm wie Spreng zu glauben scheint. Nach seiner Logik hätte auch die Verfolgung Kurt Westergaards oder Salman Rushdies durch islamistische Fanatiker mit Meinungsfreiheit rein gar nichts zu tun.  Denn die beiden genossen ja sogar noch mehr Publizität als Sarrazin.

Zweitens fand er im 450-Seiten-Wälzer Thilo Sarrazins zielsicher die Stelle, mit der Sigmar Gabriel öffentlichkeitswirksam gegen Thilo Sarrazin punkten könne. Spreng schreibt:

“ Wer sich selbst seiner nicht sicher ist, dies auch noch öffentlich demonstriert, der überzeugt keine Wähler.

Umso unverständlicher ist, dass die SPD in der öffentlichen Diskussion nicht die 50.000-Euro-Trumpfkarte spielt. Sarrazin will Akademikerpaaren, die unter 30 ein Kind bekommen, 50.000 Euro Prämie zahlen. Damit steht er in fundamentalem Gegensatz zur Aufstiegsphilisophie der SPD: Aufstieg durch Bildung. Sarrazin dagegen will aus seiner kruden Sicht von vererbbarer Intelligenz nur die Aufstiegsgewinner belohnen. Verkäuferinnen, AOK-Angestellte, Busfahrer, Facharbeiter sollen leer ausgehen. Geld gibt’s nur  für Akademiker.“

Das veröffentlichte Spreng am Mittwoch letzter Woche, einen Tag später spielte Gabriel prompt in der Illner-Talkshow die vermeintliche Trumpfkarte. Thilo Sarrazin liegt hier auch nach meiner Ansicht völlig daneben. Sein Vorschlag ist blödsinnig. Er leitet sich daraus ab, dass Sarrazin die angeborene Intelligenz überschätzt. Nur geht es hier nicht um die Hauptbotschaft des 450-Seiten starken Sarrazin-Wälzers, sondern um eine eher unbedeutende Randnotiz.

Eine ernsthafte, intellektuell redliche Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazin, das zeigen diese Beispiele, ist vom Berliner politisch-publizistischen Komplex nicht beabsichtigt.  Einer,  der „Niedergang“ sagt anstelle des politisch korrekten Neusprechs vom „demografischen Wandel“,  einer, der statt geschönter Statistiken die echten Zahlen präsentiert, einer, der statt in Legislaturperioden in Generationen denkt, so einer soll als Schmuddelkind ausgegrenzt und in die Ecke gestellt werden.

Aber das Volk, der große Lümmel, fängt an zu greinen. Und das ist gut so.

„Jüdische Diaspora genetisch bestätigt“, schrieb die „Jüdische Allgemeine“

Erst rückte der offenbar verwirrte Außenminister Guido Westerwelle  Thilo Sarrazin in die Nähe des Antisemitismus,  Franz Josef Wagner kartete in BILD nach  („scheiße,  beschämend, widerlich“), und Michel Friedman gab sich so aggressiv , dass man befürchten konnte,  er sei auf Koks. Das ist schon ein paar Tage her. Inzwischen hat Sarrazin dazu Stellung bezogen.  Andere, wie z.B. Josef Joffe  haben den Antisemitismusverdacht mit den treffenden Argumenten als absurd zurückgewiesen – Näheres hier.

Wer Sarrazin jetzt immer noch des Antisemitismus beschuldigt,  ist entweder begriffsstutzig oder böswillig.  Er sei auf einen von Sascha Karberg in der „Jüdischen Allgemeinen“ veröffentlichen Artikel vom Juni dieses Jahres  verwiesen.  Unter der Überschrift „Abrahams Kinder“ schrieb Karberg über eine Kontroverse unter Historikern in Israel. Einer von ihnen habe gemeint, es könne Folgen für die Legitimation des Staates Israel haben,  wenn sich herausstellte, dass das über die Welt verstreute jüdische Volk gar keine gemeinsamen genetischen Wurzeln im Nahen Osten hätte.

Karberg schreibt:

„Aber wie sollte sich eine solche Frage durch das Studium schriftlicher Überlieferungen und interpretationsbedürftiger archäologischer Ausgrabungen beantworten lassen? Jetzt springt den Historikern die Genforschung bei. Zwei Forschergruppen haben unabhängig voneinander Proben aus dem Erbgut hunderter Juden aus verschiedenen Regionen Europas, Asiens und Afrikas auf Verwandtschaftshinweise untersucht und mit Proben der benachbarten nichtjüdischen Volksgruppen der jeweiligen Regionen verglichen – und können die mythische Diaspora nun naturwissenschaftlich bestätigen. “

Und:

„Der Beginn der Diaspora lässt sich anhand der genetischen Spuren auf vor etwa 2.500 Jahren terminieren. Damit bestätigen die Forscher die in der jüdischen Mythologie beschriebene Diaspora. Demnach sind nach der Zerstörung des jüdischen Staates durch den babylonischen König Nebukadnezar 586 v.d.Z. die Stämme Israels zunächst nach Babylon und Ägypten und dann über die Welt zerstreut worden. Ihre gemeinsame Abstammung blieb dabei in erstaunlichem Maße im Erbgut erhalten, obwohl die Stämme während der Jahrhunderte weitgehend isoliert voneinander blieben. Dazu trug wohl auch bei, dass es verhältnismäßig wenig Genaustausch mit den jeweiligen Nachbarn gab – sei es nun durch Ausgrenzung oder kulturelle Isolation.“

Also:  Sarrazin ist selbstverständlich kein Antisemit. Ein Juden-Gen gibt es  entgegen seiner Formulierung im Interview mit der Welt am Sonntag  zwar nicht. Aber neueste Forschungen bestätigen die gemeinsamen genetischen Wurzeln der Juden – und in Israel ist man offenbar recht froh darüber.

Jerusalem Post sieht „eine bizarre Welle anti-intellektueller Hysterie“ in Deutschland

Benjamin Weinthal  schrieb am 2. 9. einen Kommentar für die Jerusalem Post, in dem es u.a. heißt:

„The furor associated with Sarrazin’s book has led to a bizarre wave of anti-intellectual hysteria, triggering leading German politicians and journalists to trash Germany Abolishes Itself without having read it. A bookstore in Hildesheim, 30 km. southeast of Hanover, announced the cancellation of Sarrazin’s first public reading on Thursday due to “security concerns” in connection with a group called ´Alliance against the Right.´“

Es ist  keineswegs so, dass der Ruf der Bundesbank in aller Welt steigt, wenn Thilo Sarrazin wegen seines Buches gefeuert wird. „The efforts to silence him and prevent a debate about his book seem to prove his thesis correct“, meint Weinthal in der Jerusalem Post.

 

Meinungsfreiheit stirbt zentimeterweise

Laut Süddeutsche Zeitung vom Donnerstag (2. 9.2010) beklagt Erhard Eppler, dass keiner „in den Gremien“ das Buch von Thilo Sarrazin zur Gänze kenne (gemeint sind die SPD-Gremien). „Und deshalb scheint mir diese Entscheidung zumindest voreilig zu sein“ (gemeint ist die Entscheidung zur Einleitung des Parteiausschlussverfahrens). 

Egon Bahr mag laut SZ auch noch kein Urteil fällen: „Das Buch hat mehr als 450 Seiten. Ich bin jetzt ungefähr auf Seite 38. Ich habe bisher nichts gelesen, an dem ich mich stoßen würde.“

Während also die großen alten Männer der SPD, die Weggefährten Willy Brandts, erstmal genau hinschauen wollen, bevor sie sich ein Urteil über Sarrazins Buch erlauben, verpasst die Parteispitze der SPD in Person des früheren Popbeauftragten Sigmar Gabriel dem Buchautoren unverzüglich das Attribut „menschenverachtend“ und gibt so den Unbequemen ganz nebenbei auch zum  Abschuss bei der Bundesbank frei, zur Vernichtung der beruflichen Existenz. Gabriel ist sich einig mit Guido Westerwelle, der am 29. August  zur Causa Sarrazin in staatsmännischer Pose erklärt hatte: 

„Wortmeldungen, die Rassismus oder gar Antisemitismus Vorschub leisten, haben in der politischen Diskussion nichts zu suchen.“

Laut Presseberichten gehört Sarrazin seit 35 Jahren der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Aber keiner  in der Parteiführung kommt auf die Idee, Sarrazin gegen Westerwelles absurden Antisemititismus-Vorwurf zu verteidigen. Das muss am Ende der Journalist Josef Joffe übernehmen:

„Wieso ist es »Antisemitismus« (Westerwelle), wenn einer behauptet, Juden teilten ein »bestimmtes Gen«? »Ein« Gen ist zwar Unsinn, aber es gibt genug Studien, wonach sich Juden in diversen Diaspora-Gruppen genetisch sehr wohl von Nichtjuden in der jeweiligen Region unterscheiden. Kein Wunder auch, wenn eine Gruppe die Endogamie selber wählt oder sie erleiden muss.“  

Wahrscheinlich gerät demnächst unter Rassismus-Verdacht, wer sagt, dass Eskimos und Schwarze sich genetisch unterscheiden. Auch Frank Schirrmacher nutzt in intellektuell unredlicher Weise Sarrazins Interview-Irrtum mit dem „einen Gen“ aus, um ihn unter bösen Verdacht zu stellen.

„Die Frage, ob Herr Sarrazin als Mensch Rassist ist oder nicht, die können wir uns alle am Ende noch mal vorlegen, nach dieser Debatte. Aber vorher muss man sehen, was sagt dieser Mann, warum findet es solche Resonanz, was ist daran richtig, was ist daran nicht richtig? Nehmen Sie das Beispiel mit dem sogenannten Juden-Gen. Das stimmt einfach nicht. Übrigens gibt es auch kein Intelligenz-Gen. Und dieser Biologismus eines Autodidakten ist wirklich wahnsinnig gefährlich.“

Nein, es gibt kein Intelligenz-Gen. Aber selbstverständlich eine genetische Dimension der Intelligenz. Schirrmacher, selbst Autodidakt auf fast allen Gebieten,  schwurbelt hier bösartig über den „Biologismus eines Autodidakten“ als hätte er sein eigenes „Minimum“-Buch nicht gelesen.

Einer besonders originellen Argumentation bedient sich Schirrmacher, um Sarrazin des „Vulgärdarwinismus“ zu überführen, was immer das sein mag. Sarrazin, sagt Schirrmacher, meine eben etwas ganz anderes als er schreibe:

„So ist etwa seine These, die muslimischen Migranten hätten den Deutschen keinen ökonomischen Nutzen gebracht, nur vordergründig ökonomisch. In der Logik seines Buchs handelt es sich bei dem Nützlichkeitsargument um einen zentralen Pfeiler der Darwinschen Züchtungstheorie, denn Selektion, so Darwin, folgt den Gesetzen der Nützlichkeit.“

Tja, nehmt euch zukünftig in Acht, ihr Volks- und Betriebswirte, wenn ihr Kosten und Nutzen abwägt! Vielleicht seid ihr nur gut getarnte Anhänger der Menschenzucht.

Noch toller als Schirrmacher treibt es der Journalist Wolfgang Michal bei Carta. In einem (erbärmlich schwachen) satirischen Beitrag bezichtigt er Sarrazin unter anderem der Homophobie. Als ein Kommentator ihn darauf aufmerksam macht, dass Thilo Sarrazin noch niemals etwas gegen Homosexuelle gesagt habe, antwortet Michal  „noch nicht“.  Am besten, die Gesinnungspolizei nähme Elemente wie Sarrazin in Vorbeugehaft, nicht wahr, Herr Michal?

Die genannten Westerwelle, Schirrmacher und Michal sind nur drei Beispiele dafür, wie nahezu die gesamte politische und publizistische Klasse dem unliebsamen und unverblümt, subjektiv ehrlich und zweifellos oft polemisch formulierenden Debattenteilnehmer Thilo Sarrazin das Wort im Mund herumdreht. An Sarrazin soll ein Exempel statuiert werden.  Wer im Unterschied zu Sarrazin nicht finanziell abgesichert ist, sondern für seine Familie die Brötchen verdienen muss, der soll  sich zukünftig gut überlegen, ob seine Thesen zur political correctness von Claudia Roth und Renate Künast,  Angela Merkel und dem unsäglich eitlen Großinquisitor Michel Friedman passen.

 „Freedom dies by inches“, sagt der Angelsachse, die Freiheit stirbt zentimeterweise.  Das war keine gute Woche für die  Meinungsfreiheit in Deutschland. Das war keine gute Woche für die SPD und ihren Schnellrichter Gabriel. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden – da hatte die rote Rosa schon ganz Recht.

Ich habe Thilo Sarrazins Buch nicht gelesen, nur ein paar Seiten Vorabdruck im Spiegel. Ich habe aus dem bisher Gehörten und Gelesenen den Eindruck, dass Sarrazin das Psychologenkonstrukt  „Intelligenz“ und die Möglichkeiten seiner Messung  überschätzt und die Bedeutung von Umwelteinflüssen für die individuelle Chance, ein gegebenes Intelligenzpotenzial überhaupt zu nutzen, unterschätzt.  Und ich bin überzeugt, dass Sarrazin Probleme anspricht, die von  denjenigen verkleistert werden, die noch kürzlich Sprachkurse für ausländische Kinder als „Zwangsgermanisierung“ empört zurückgewiesen haben.

Sarrazin, schreibt Cora Stephan,

„ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden…  Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wählerschaft eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, daß sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amts wegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert.“

So ist es. Ich frage mich, welcher Teufel die Sozialdemokratie und darüber hinaus die politisch-publizistische  Klasse geritten hat,  sich nahezu gleichgeschaltet auf eine solche Hexenjagd zu begeben.  Auch für private wie öffentlich-rechtliche Medien wird die über weite Strecken brutale Mundtotmachung eines unbequemen und womöglich in manchen Punkten irrenden Kritikers Langzeitfolgen haben, die noch gar nicht abzusehen sind.  Wie schon beim Rücktritt Köhlers zeigt sich, dass die veröffentlichte und die öffentliche Meinung weit auseinanderklaffen. Wer glaubt, das würde ohne Folgen bleiben, ist ein Narr. „Der Fall Sarrazin“, schreibt Cora Stephan,  „ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.“

Nachtrag:

Hier noch eine Anmerkung von Cora Stephan bei welt.de:

„Die Bundeskanzlerin gerierte sich als Oberzensorin, obwohl sie das Buch des Autors gar nicht gelesen hatte, empfahl hernach dem Vorstand der Bundesbank öffentlich, sich von Thilo Sarrazin zu trennen, und lobte zum Schluss dessen „unabhängige Entscheidung“. Sollte das ein Scherz sein? Und was ist von einem Bundespräsidenten zu halten, der sich eilfertig als Erfüllungsgehilfe annonciert? Langsam ahnt man, was Altbundespräsident Köhler dazu bewogen haben könnte, den Bettel hinzuschmeißen. Soviel Arroganz gegenüber den Regeln der Demokratie hat man hierzulande selten erlebt. Und jetzt möchte unsere verlogene Elite, nachdem der Provokateur entfernt ist, endlich über das „Megathema der nächsten Jahre“ diskutieren: über Integration.“

 

„Die SPD hat eine große Chance verpasst“

Das sagt der Soziologe Heinz Bude in einem lesenswerten Interview in der aktuellen Zeit (steht anscheinend bisher nicht online und trägt die Überschrift „Wie klug ist die FDP?“).  Vielen im linken Lager, sagt Bude, sei noch gar nicht klar geworden, dass die Linke nach Jahrzehnten die Deutungshoheit, die kulturelle Hegemonie, verloren habe.

„Die Leute akzeptieren die Wahrheitszumutung der Krise. Sie wissen, dass wir keine rettende Kollektivinstanz mehr haben, die uns vor den Problemen schützt, sondern, dass die Dinge ohne Eigenaktivität nicht zu richten sind. Das bedeutet nicht den Rückzug auf die Eigentümergesellschaft, sondern bringt die Einsicht zum Ausdruck, dass es eine Verbindung zwischen der Eigenverantwortung und derLösung der  Gesamtheitsprobleme gibt.“

Eigenverantwortung? Das ist nach Ansicht von Scheinlinken wie Christoph Butterwegge & Co. der beste Kandidat für das Unwort des Jahres. Viele, zu viele Sozialdemokraten sind in den letzten fünf Jahren solchen Gesinnungsethikern gefolgt, die – vielleicht weil sie aus dem Schul- und Hochschulbereich nie herausgekommen sind – die Realitäten nur noch selektiv wahrnehmen. Im wirklichen Leben wächst in den Bürotürmen dieses Landes seit langem die Zahl der Leute, die aus jeder Versicherung – ob sozial oder privat – „mindestens so viel rausholen“ wollen, wie sie eingezahlt haben. Heerscharen von Ratgebern und Juristen stehen ihnen dabei zur Seite. Man braucht keine Kenntnisse der Spieltheorie, um zu erkennen, dass solche Versicherungen – allgemein gesprochen: solche sozialen Systeme – kollabieren werden, wenn der Prozess nicht gestoppt wird.

„Mitnahmeeffekte bis weit in die Mittelschicht hinein“, hatte Gerhard Schröder deshalb vor Jahren angeprangert, wenn ich es recht erinnere. Die sozialdemokratischen Verantwortungsethiker hatten – wenn auch erst nach mehreren rot-grünen Jahren – den Mut gefasst, das  Ruder ein Stück weit herumzureißen.  Ihr Leitbild wurde – sie sprachen vom Fördern und Fordern – der zur Eigenverantwortung befähigte aufgeklärte Bürger.

Doch ein Großteil der SPD fühlte sich auch im jüngsten Wahlkampf wohler bei den Gesinnungsethikern und ihren einfachen Wahrheiten.  Der Verlust der kulturellen Hegemonie für das (schein-)linke Lager ist die Quittung dafür.

Realitätsverweigerer ohne strukturelle Mehrheit!

Die SPD hat noch schlechter abgeschnitten als ich befürchtet hatte. Wer die fröhlichen Gesichter von Böhning und Drohsel sah, die gleich nach 18 Uhr gestern vor den Kameras erschienen und „Konsequenzen“ forderten,  ahnt, wer auf den Pianisten geschossen hat. Will sagen: Natürlich hat die SPD auch deshalb so katastrophal abgeschnitten, weil die Franziska Drohsels in den letzten Monaten eher gegen als für Steinmeier und Steinbrück gekämpft haben.

Frank Lübberdings Rücktrittsforderung an Steinmeier und Müntefering ist interessant, ebenso wie die  anschließende erregte Diskussion im weissgarnix-Blog.  Lübberding und seine Mitstreiter haben überhaupt noch nicht begriffen, dass sie selbst mit ihrer 70er-Jahre-Weltsicht die Hauptverlierer dieser Wahl sind. Der Hauptgewinner ist nämlich Guido Westerwelles FDP – aus Sicht der Drohsels und Lübberdings der „neoliberale“ Gott-sei-bei-uns. Die Wählermehrheit teilt die 70er-Jahr-Sicht nicht.

Die Mehrheit derer, die diese Sicht nicht teilen, ist im übrigen viel größer als der gestrige Stimmenanteil von Schwarz-Gelb. Wenn die Drohsel-Lübberdings es nämlich schaffen sollten, kompetente Sozialdemokraten wie Steinbrück in einer Nacht der langen Messer zu schlachten, würde die SPD sofort die Stimmen der vielen Daniel Daffkes verlieren, die sie gestern noch bekommen hat. Das sind geschätzte fünf Millionen. Es gibt in Deutschland keine strukturelle Mehrheit der Realitätsverweigerer.

Steinmeier und die anderen Agenda-Politiker der SPD stehen – bei allen Fehlern, die sie gewiss gemacht haben – für eine nachhaltigere Politik. Aber nachhaltige Politik ist unbequemer als die Schuldenmacherei auf Kosten der Zukunft. Viele wollen lieber Freibier für alle. Oder Reichtum für alle.

Lübberdings Rücktrittsforderung zeugt noch aus einem anderen Grund von mangelnder politischer Urteilskraft. Wer mit Aussicht auf Erfolg eine rot-rot-grüne Mehrheit schmieden wollte, bräuchte selbstverständlich einen eher rechten Sozialdemokraten wie Steinmeier als Manager des Annäherungsprozesses zwischen rot und rot.

Im Saloon

„Steinmeier ist nicht schuld“, schreibt Wolfram Weimer in seiner Cicero-Kolumne. Der Blick des konservativen Weimer auf die SPD ist vielleicht weniger durch Ressentiments und Vorurteile getrübt, ist unbestechlicher als der manches linken Journalisten, der Steinmeier insgeheim zu den berüchtigten Neoliberalen zählen mag.

Was in der Partei vor sich geht, beschreibt Weimer so:

Müntefering mahnt, man solle im Saloon nicht auf den Mann am Klavier schießen. Doch das befolgt keiner mehr. Die Parteilinke feuert unter den Tischen aus allen Pistolen gegen „den letzten Schröderianer“. Steinmeier solle jetzt „die Abschlussquittung für die Agendapolitik“ kassieren, und dann stehe der Generationenwechsel an. Vor allem Wowereit, Nahles und Gabriel bereiten sich auf die Zeit nach Müntefering, Struck und Steinmeier vor. Hinter den Kulissen des Willy-Brandt-Hauses geht es bereits um die innerparteiliche, nach links drängende Macht nach dem 27. September.

Was wäre es für manchen Heckschützen für ein Desaster, wenn Steinmeier doch noch Kanzler werden würde.

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass

Frank Walter Steinmeier hat bei manchen Gelegenheiten – zum Beispiel als Opel- und Karstadtretter vor der Europawahl – tatsächlich keine glückliche Figur gemacht. Steinmeier ist natürlich auch nicht der Medienkanzlerkandidat, der Schröder einst war. Nur: Die Unwilligkeit, sich den Regeln einer entfesselten Medienmeute zu unterwerfen, wird merkwürdigerweise von denselben Leuten bei Steinmeier bekrittelt und bei Merkel gelobt.

„Es gibt in diesem Wahlkampf einen antisozialdemokratischen Affekt“, schrieb Jürgen Busche kürzlich in der „Zeit“. Es handele sich um eine Art Herdenverhalten im ehemals rot-grünen Milieu, im linken Spektrum der veröffentlichten Meinung.

Woher der antisozialdemokratische Affekt kommt? Es ist der Mix aus dem Eindruck, die SPD habe diesmal eh keine Chance und dem Wunsch, mit der ungeliebten Agenda-SPD Schluss zu machen. Viele verstehen die globalisierte Welt nicht mehr – was nicht nur mit deren Komplexität, sondern auch mit fehlender ökonomischer Bildung oder selektiver Wahrnehmung zu tun haben könnte – und geben der Agenda die Schuld am Unglück dieser Welt. Sancta simplicitas!

Die „Stones“-Hasser im linken Spektrum täuschen sich. Schröders Agenda wies zwar in der Ausführung handwerkliche Fehler auf, sie wurde nicht gut genug erklärt, und spätestens 2005 machte die Agenda-SPD Wahlkampf gegen sich selbst. Dass wir aber mehr Eigenbeteiligung und mehr Eigenverantwortung brauchen, ist und bleibt der richtige Kerngedanke der Agenda.

Die SPD, die in der deutschen Geschichte schon öfter den Karren aus dem Dreck ziehen musste, hatte – anders als die konservativ-liberale Regierung in 16 langen Regierungsjahren – den Mut dies auszusprechen und ansatzweise umzusetzen. Schröder, das ist richtig, hatte sich im Wahlkampf 2002 kein Mandat für schmerzhafte Reformpolitik geholt. Vielleicht hätte er auch keins bekommen. „Wasch´mir den Pelz, aber mach´mich nicht nass“, ist nämlich die Devise der Wählermehrheit. Seit zehn bis fünfzehn Jahren ahnt oder weiß diese Mehrheit ziemlich genau, dass es mit den Flatrates des Wohlfahrtsstaates so nicht weitergehen kann. Viele wollen auch, dass energisch reformiert wird – aber doch bitte, Sankt Florian lässt grüßen, bei anderen.