Die Erkenntnis, dass es sich bei der Finanzkrise um ein systemisches Problem handele, könne sich bisher öffentlich nicht durchsetzen, stellt Thomas Strobl fest. „Stattdessen wird von der Politik wie auch von den Medien das Bild des gierigen Bankers gezeichnet und ein Moraldiskurs geführt.“ Wenn ein Autor zu dieser Erkenntnis vorgedrungen ist – für die Hans-Werner Sinn vor einiger Zeit fast mal geteert und gefedert worden wäre –, darf ein lesenswerter Text erwartet werden. Strobls Buch ist lesenswert. Ich hatte es vor einiger Zeit in einem Rutsch am Wochenende durchgelesen, komme aber erst jetzt dazu, ein paar Zeilen zu schreiben.
Thomas Strobl alias weissgarnix verfügt über profunde ökonomische und ideengeschichtliche Kenntnisse, ohne zu den blutleeren Theoretikern zu gehören, die außer Schule und Hochschule vom Leben nichts gesehen haben. Der Stil ist locker und anekdotenreich, die Sprache meist angenehm präzise. Strobl beschreibt im ersten Kapitel den Kapitalismus als schuldengetriebenes System und zerpflückt die herrschende neoklassische Wirtschaftstheorie im zweiten Kapitel. Im dritten Kapitel untersucht er die Rolle des Bankensektors näher, um schließlich im vierten Kapitel zu fragen, was denn wohl, bitte schön, den Kapitalismus ablösen könnte, wo er doch so ungerecht und instabil sei.
Ein antikapitalistisches Manifest ist das Buch natürlich nicht. Zwar scheut sich der Autor nicht, ein Wort wie „Kapitalistenschwein“ zu verwenden, doch zwinkert er dem Leser dabei freundlich-ironisch zu. Ohne Kredit und Geldschöpfung hätten wir unser Wohlstandsniveau nicht erreichen können, lautet eine – sicher richtige – Kernbotschaft. Allerdings: Die Frage nach den Grenzen von Schuldenmacherei und Fiat Money stellt sich gleichwohl – und just in den Monaten, in denen das Buch entstand, hat sie sich ziemlich dramatisch zugespitzt. Der Untertitel des Buches ist bloß als Marketing-Gag zu lesen; die schwäbische Hausfrau ist schließlich zum Feindbild aller Nachfragetheoretiker geworden.
Wie ein roter Faden zieht sich eine bestimmte, schon bei Paul C. Martin und den Debitisten beliebte Metaphorik durch das Buch: „Der Kapitalismus ist ein einziger großer Kettenbrief. Er bleibt so lange intakt, wie neue Schuldner hinzutreten, um alte Schuldner auszulösen; er reißt aber in dem Moment, wo Neuschuldner ausbleiben.“ Im Notfall müssen eben die Staaten – wie soeben geschehen – die privaten Schuldner raushauen, indem sie sich bis zur Halskrause verschulden. Und wenn sie selbst im Schuldensumpf versackt sind? Dann „wird man irgendwelche neuen, supra-nationalen Organisationen aus dem Hut zaubern, um faule Schulden auf ihnen abladen zu können. Globale ´Bad Banks´sozusagen … Der Kettenbrief namens Kapitalismus muss nicht reißen. Der große Kollaps, der Kladderadatsch, wird erneut verschoben.“
Hier ist Thomas Strobl trotz seiner pragmatischen Haltung vielleicht doch ein bisschen der Gefangene seiner keynesianischen Grundüberzeugungen. Den großen Kladderadatsch – das ist ein bei August Bebel entliehener Begriff – den hat es schließlich historisch mehrfach gegeben. Für die Deutschen kam er im Gefolge zweier verlorener Weltkriege und ist fest eingebrannt im kollektiven Gedächtnis. In ihrer Analyse der Finanzkatastrophen aus acht Jahrhunderten und über 60 Ländern zeigen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, dass sie stets nach demselben Grundmuster ablaufen. „Dieses Mal ist alles anders“, lauten dennoch immer wieder die Angriffs- und Durchhalteparolen.
Es liegt ja nun einmal im Wesen des Kettenbriefes, dass er irgendwann reißt. Entweder passt also die Kettenbrief-Metapher nicht, oder Strobl muss den Schwarzseher geben, muss für einen irgendeinen zukünftigen, nicht genau vorhersehbaren Zeitpunkt den großen Knall voraussagen. Doch wer möchte schon Kassandra sein? Strobl möchte lieber nicht. Um sich aus dem Dilemma zu befreien, greift er am Schluss zum rhetorischen Trick: Wer die Frage aufwerfe, was nach dem finalen Kettenbriefriss komme, wird mit einem abgewandelten Augustinus-Zitat beschieden: „Dann kommen die Höllenschlünde, in die all diejenigen geworfen werden, die solche Fragen stellen!“
So bleibt Thomas Strobl letztlich doch beim Wachstums-Mantra, wenngleich er zwischendurch Überlegungen von Keynes und Schumpeter referiert, die dagegen sprechen. Eine Antwort auf die Frage, was die im Langfristtrend kontinuierlich abflachenden Wachstumsraten hoch entwickelter Länder hindern sollte, sich der Nulllinie weiterhin zu nähern (und sie womöglich irgendwann für längere Zeit zu durchstoßen) bleibt das Buch leider schuldig.
Genauso wie die von ihm geschmähte Neoklassik hält Strobl implizit fest am Dogma von der Unbegrenztheit menschlicher Bedürfnisse. Eigentlich sogar am Dogma von der Nicht-Sättigung bei materiellen Gütern. Zwar geht ins Wachstumsmaß BIP auch Immaterielles ein, doch mit seinem bewunderswert erfolgreichen Blog legt uns der Autor ja schon höchstpersönlich die These nahe, dass immaterielle Bedürfnisse wie z. B. Gedankenaustausch und Geselligkeit im digital age zunehmend außerhalb der Marktsphäre befriedigt werden können.