Wird die „Zeit“ aus Schaden klug?

Die „Zeit“ boykottiere ich am Kiosk weiterhin.  Doch den Artikel von Bernd Ulrich  „Was ist bloß mit uns los?“ in der heute erschienenen Ausgabe kann ich trotzdem empfehlen. Ulrich analysiert darin das Versagen des journalistischen Mainstreams im zu Ende gehenden Jahr und kommt zu Ergebnissen, die in diesem Blog schon vor Wochen anklangen: Homogenität und Hermetik prägen die Medien. Manche Journalisten, die vor politischer Korrektheit kaum gehen können,  haben sich dem gemeinen Volk und der Realität genauso entfremdet wie Teile der politischen Klasse.

Tja, was ist bloß los mit Euch? aus: Die Zeit v. 16.12.2010

 

Das würdelos-lächerliche, selbstreferenzielle Hochjazzen der Wikileaks-Depeschen durch den „Spiegel“ prangert Ulrich zu Recht an, ebenso wie das lange Schweigen der Presse in Sachen Odenwaldschule. Den schon vor zehn Jahren bekannten sexuellen Missbrauch an der Schule kehrte man lieber unter den Teppich, weil man der Reformpädagogik nicht schaden wollte. 

„Wem nützt die Wahrheit“, sagt Ulrich zu Recht, das sei für einen Journalisten die falsche Frage, auch in der Migrationsdebatte. In den Redaktionen „wurde Kenntnis allzu oft durch Correctness ersetzt. Man wollte den ´Ausländern´nicht schaden, deswegen wurde so wenig über Missstände berichtet, aber auch kaum über das wirkliche pralle Leben mit seinen dramatischen Konflikten und oft faszinierenden Lösungen.“ In dieses Vakuum, sagt Ulrich, sei Sarrazin hineingestoßen.

 „Eine Niederlage in der Sarrazin-Debatte“ attestiert der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“ seiner Zunft. Bernd Ulrich hätte noch anfügen können, dass er selbst in der Frühphase jener Debatte Thilo Sarrazin in einem als „Streitgespräch“ deklarierten Interview aggressiv und unsachlich angegangen ist und die „Zeit“ (mit Ausnahme eines eher versteckt dargebotenen Beitrags des Historikers Hans-Ulrich Wehler) über etliche Wochen kampagnenartig und unfair gegen Sarrazin  zu Felde gezogen ist.

Selbsterkenntnis kann ja bekanntlich bei der Besserung helfen. Vielleicht besinnt sich die „Zeit“-Chefredaktion ja doch noch auf Hanns-Joachim Friedrichs Verdikt, wonach ein Journalist sich nie mit einer Sache gemein machen solle, auch nicht mit einer (tatsächlich oder vermeintlich) guten Sache. Vielleicht untersagt ja Giovanni di Lorenzo seiner Redaktionsmannschaft,  den hinterlistigen politischen Kampfbegriff des „Klimawandelleugners“ weiter zu verwenden.  Das wünsche ich mir zu Weihnachten.

4 Kommentare zu „Wird die „Zeit“ aus Schaden klug?

  1. Der Begriff „Klimawandelleugner“ ist halt ebenso sanft abwertend, wie die zuvor verbreiteten Begriffe „KIimakritiker“ und „Klimaskeptiker“ sanft aufwertend waren. Es steht also 1:1. Ich hoffe, die „Zeit“ bleibt dabei.

  2. Das sehe ich anders. „Klimawandelleugner“ knüpft mit einer gewissen Perfidie an den „Holocaustleugner“ an. Den Holocaust zu leugnen, ist in unserem Land zu Recht ein Straftatbestand. Das Strafmaß beträgt bis zu fünf Jahre Gefängnis.

    Wer nun aber Leute in die Nähe von Kriminellen rücken will, bloß weil sie wissenschaftlich oder politisch eine andere Meinung haben, der handelt nach meinem Empfinden wissenschafts- und freiheitsfeindlich. Ich würde mich daher freuen, wenn die „Zeit“, die ja eine (sozial-)liberale Tradition hat, solchen Anfängen wehren würde.

  3. Ist die Deutung nicht ein bisschen weit hergeholt? Klimawandel ist ja nun was ganz anderes als der Holocaust (in dem Sinne, dass Klimawandel, auch der menschengmeachte, ein diffuser Prozess mit ganz vielen fahrlässig Schuldigen ist, der Holocaust dagegen ein Verbrechen, das gezielt und vorsätzlich von einer relativ kleinen Gruppe Menschen verübt wurde). Wenn mich jemand als Demografieleugner bezeichnen würde, weil ich Sarazins Bevölkerungsprognosen misstraue, dann würde ich das nicht als einen Vergleich mit Holocaustleugnern empfinden.

  4. Ja, der Holocaust ist tatsächlich etwas ganz anderes als der Klimawandel. Der industriell betriebene Mord an den europäischen Juden liegt in der Vergangenheit und ist durch Zeitzeugen und Dokumente zweifelsfrei belegt.

    Beim Klimawandel reden wir dagegen auch über die Gegenwart und die Zukunft. Und wir haben es mit hochkomplexen naturwissenschaftlichen Zusammenhängen zu tun, über die der Mensch sichere Aussagen schlechterdings nicht treffen kann. Er kann Hypothesen formulieren und ihnen gewisse Wahrscheinlichkeiten zuschreiben.

    Ich selbst tendiere bis heute dazu, den Hypothesen über menschengemachten Klimawandel Glauben zu schenken. Es macht mich aber misstrauisch, wenn Wissenschaftler oder Journalisten meinen, ohne die kampagnenartig vorgetragene Killerphrase vom „Klimawandelleugner“ nicht auskommen zu können. Welchen vernünftigen Grund könnte es denn geben, so krampfhaft den semantischen Gleichklang zum „Judenmordleugner“ zu suchen?

    Zu Sarrazin: Er hat er keine Bevölkerungsprognosen erstellt, sondern Modellrechnungen. Davon abgesehen, lässt sich aber die Demographie über ein paar Jahrzehnte wesentlich einfacher prognostizieren als z.B. die Wirtschaftsentwicklung oder das Klima.

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